Ascheträume
dem gesprungenen Glasrahmen, der aussah wie aus Eis, posierten vier Personen. Zwei Gesichter erkannte ich sofort. Das Haus im Hintergrund schien Charles’ Villa zu sein. Im Vordergrund stand Charles, sehr viel jünger als heute. Die Fliege und das Lächeln ließen keinen Zweifel.
Neben Charles stand meine Mutter Julia.
Ein infernalischer Gestank schlug mir entgegen. Ich drehte mich um. Hinter mir stand Rickie.
»Da ist er, Charles …«, sagte sie und deutete mit ihrem krummen Finger auf ihn.
Ich lächelte sie an.
»Und wer sind diese beiden?«, fragte ich und deutete auf einen Mann mit Brille und eine vierte Person, die man kaum erkennen konnte. Es war ein großer, magerer, kahler Mann. Die Feuchtigkeit hatte ihn fast ganz aus dem Bild verschwinden lassen.
»Die beiden«, sagte Rickie und legte einen Finger an die Lippen, »sind Kolor und Ray.«
»Ray? Welcher von beiden ist das?«, rief ich und ging näher an das Foto heran, als könne ich durch die Farbklümpchen hindurch besser sehen.
»Der mit der Brille«, sagte Rickie.
Ich hielt es für angebracht, meine Identität zu enthüllen: »Ich …«, sagte ich ernst und unbeholfen, »ich bin seine Tochter.«
Rickie war verdutzt. Sie musterte mich von Kopf bis Fuß, dann drehte sie sich zu meinen Freunden um und musterte auch sie. Leonard schien seine Angst vor den Schildkröten inzwischen verloren zu haben, er streichelte ein frisch geschlüpftes Tier und zog dabei komische Grimassen.
Rickie wandte sich wieder zu mir um und sah mich an.
»Aber …«, sagte sie, als würde sie an ihren eigenen Worten zweifeln, »Ray Pitbury hatte gar keine Kinder.«
Das Durcheinander in meinem Kopf erreichte ein solches Ausmaß, dass mir fast das Hirn platzte.
Auf diesem Foto da war also ein Schriftsteller abgebildet, der Ray hieß, genau wie mein Vater, der aber keine Kinder hatte. Er stand neben Charles, meiner Mutter und …
»Dieser andere …«, fragte ich und versuchte, mich an den Namen zu erinnern. »Wie hieß er doch gleich?«
Rickie lächelte.
»Kolor.«
Wir verabschiedeten uns, stiegen wieder in den Wagen und ließen dieses gottverlassene Dorf so schnell wie möglich hinter uns.
»Musstest du unbedingt dieses Ding da mitnehmen?«, fragte Christine Leo irgendwann.
»Red nicht so von Gerard!«, sagte Leo säuerlich und machte das Handschuhfach auf. »Wo ist denn mein Kleiner? Herzallerliebst bist du, herzallerliebst!«
Bevor wir das Haus der Verrückten verlassen hatten, hatte Leonard beschlossen, eine Schildkröte zu adoptieren, die nun in einem leeren Plastikbecher kauerte.
»Mir wird gleich schlecht«, sagte Christine. Dann fragte sie mich, während ich mir auf einem Zettel Notizen machte: »Und, hast du was herausgefunden?«
Ich schrieb »Ray Pitbury« auf den Zettel und steckte ihn ein.
»Möglicherweise dass mein Vater Schriftsteller war, aber keine Kinder hatte.«
»Cool«, meinte Leo, als er endlich auf eine asphaltierte Straße einbog. »Und jetzt fahren wir in eine Waschanlage, und ihr beiden helft mir, den Wagen zu putzen.«
Es hatte aufgehört zu regnen, während wir in die Stadt zurückfuhren, die Sonne lugte wieder hinter den Wolken hervor.
»Wenn du hoffst, mich mit dieser Ausrede im nassen T -Shirt zu sehen, bist du verdammt schiefgewickelt!«, knurrte Christine.
»Wenn du hoffst, dich mit dieser Ausrede davor drücken zu können, die Stoßstangen zu polieren, dann bist du verdammt schiefgewickelt!«, gab Leo schlagfertig zurück.
Wir fuhren mit Leo zu einer Waschanlage, schafften es aber, unserer Putzpflicht zu entkommen. Christine schob eine Allergie gegen Autoputzmittel vor, und ich bekam einen Anruf von meiner Mutter, die mich bat, sofort nach Hause zu kommen und ihre Lieblingssoap aufzunehmen. Sie war beim Steuerberater und wusste nicht, ob sie rechtzeitig zurück sein würde, um sie sich anzusehen.
Ich entschuldigte mich bei Leo und sagte, wenn er einmal im Urlaub sei, würde ich seine Schildkröte hüten. Er lächelte und versuchte, uns mit Wasser zu bespritzen, während wir weggingen.
An der Kreuzung verabschiedete ich mich von Christine. Sie wollte noch kurz in den Comic-Laden, mein Heimweg führte aber in die entgegengesetzte Richtung.
Zu Hause sah ich auf die Uhr und schob eine Kassette in den Videorekorder. Ich verstand nach wie vor nicht, wieso meine Mutter unbedingt diese Antiquität benutzte. Ich hatte ihr schon mehrmals angeboten, die Serien im Internet herunterzuladen, aber ich konnte ihr einfach nicht
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