Ascheträume
als hätte Charles meine Erinnerungen heraufbeschworen. Die Besonderheiten, die uns anziehen. Unsere Augen. Genau das hatte ich Charles fragen wollen.
»Hatte mein Vater auch violette Augen wie ich?«
Ich hoffte inständig, dass er meine Frage bejahen und mir erzählen würde, dass auch mein Vater in eine Welt aus Asche reisen konnte. Einen Augenblick lang hoffte ich es wirklich.
Es wäre eine große Erleichterung, wenn endlich jemand eine Erklärung für mich hätte. Aber leider war dieser Jemand nicht Charles.
»Nein, solche Augen hast nur du.« Er nahm meine Hand, eine väterliche Geste. »Es muss schwer gewesen sein, ohne Vater aufzuwachsen. Aber du bist stark wie ein Fels. Und diese Augen sind Edelsteine, die du dir verdient hast.«
Ich wandte den Blick ab.
»Hatte er auch ein Schlafproblem?«
»O ja!«, sagte er und nickte heftig. »Er hatte aber das gegenteilige Problem: Er litt unter einer unheilbaren Schlaflosigkeit, er schlief fast nie. Vielleicht musst nun du die Rechnung begleichen, die er mit Morpheus offen hatte.«
»Kann sein«, sagte ich und schlürfte ein wenig enttäuscht meine Cola.
Wir plauderten noch mindestens zwei Stunden über meinen Vater und über alles, was uns durch den Kopf ging. Charles und ich hatten wirklich ein besonderes Feeling füreinander. Er behandelte mich zwar so, als sei ich erst fünf Jahre alt, aber er tat es so nett und harmlos, dass ich mir nichts anmerken ließ. Irgendwann hatte ich mir fast gewünscht, dass er mein Vater wäre, und ich fragte ihn im Spaß, ob er nicht mein Ersatzvater sein wollte.
Doch daraufhin verfinsterte sich sein Gesicht ganz unerwartet. Ich wechselte schnell das Thema und fragte, was er und Ray zusammen unternommen hätten.
»Ich und Ray?« Er wirkte verträumt.
»Ja, du und mein Vater.«
»Richtig, dein Vater …«
Ich fand, das war eine merkwürdige Antwort, aber er ließ mir keine Zeit, darüber nachzudenken.
»Er ging gern fischen. Er hatte damals ein Boot. Wir fuhren oft zum See von Gorey. Dort ist es wunderschön. Irgendwann fahren wir zusammen hin.« Dann schien er zu merken, was er gerade gesagt hatte und berichtigte sich: »Oder eher nicht … Nein, besser nicht. Ihr Kids interessiert euch ja nicht für frische Luft und fürs Fischen. Als ich so alt war wie du, hat mir das auch nicht gefallen.«
»Ich habe nichts gegen die Natur«, antwortete ich.
Charles trank sein Bier aus und schwieg eine Weile. Dann seufzte er tief.
»Wir werden sehen … Wir werden sehen …«
Er wollte aufstehen, aber ich hielt ihn am Ärmel seines Jacketts fest.
»Und der Unfall? Kannst du mir sagen, was geschehen ist? Meine Mutter will absolut nicht darüber sprechen.«
Ich hatte meine Bitte ganz unbefangen hervorgebracht, schließlich hatte ich kein Trauma aus dieser Zeit davongetragen, aber ich merkte, dass Charles betroffen war. Er musste gelitten haben. Er blickte auf mich herunter. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen.
»Warum willst du das wissen? Über bestimmte Dinge spricht man besser nicht.«
Mein Kopf war ganz leer. Ich starrte ihn an, und ohne dass ich es wollte, formte mein Mund die Worte: »Weil eine Geschichte ohne Ende nicht der Mühe wert ist, erzählt zu werden. So traurig es auch sein mag, ich muss es wissen.«
Ich staunte selbst über diesen Gedanken.
Charles zwang sich zu einem dünnen Lächeln, vielleicht um zu verhindern, dass sich ein anderer Ausdruck auf sein Gesicht stahl.
»Der Unfall …«, murmelte er. »Es ist einfach so passiert, aus heiterem Himmel. Wie alle Unfälle. Du warst gerade auf die Welt gekommen, er ging Blumen für deine Mutter kaufen, und auf dem Rückweg hat ihn ein Auto überfahren.« Er steckte die Hände in die Taschen. »Nichts Besonderes, leider …«
Ich runzelte die Stirn.
»Aber soweit ich weiß, war er gerade auf einer Geschäftsreise.« Charles schien sich unbehaglich zu fühlen. Er räusperte sich. »Ja … Ich erinnere mich nicht mehr so gut daran.«
»Wie denn das?« Ich war überzeugt, dass das nicht stimmte. Wie konnte er sich nicht mehr an den Tod seines besten Freundes erinnern?
»Und … ich wollte es romantischer klingen lassen. Entschuldige.«
Er rechtfertigte sich, aber mein sechster Sinn sagte mir, dass hier etwas faul war.
Als er sah, dass ich mich nicht rührte, ging Charles durch die Sitzreihe auf die andere Seite des Saals.
Ich blieb sitzen und sah ihn an, als sei er der letzte Zuschauer einer Aufführung, die schon vor vielen Jahren zu Ende gegangen war.
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