Ascheträume
du gelesen hast. Ray war ein guter Freund, dank ihm und Charles habe ich Kolor kennengelernt.«
Sie strich über ein Möbelstück neben ihr, und ihre Finger zerfurchten den Staub wie ein Pflug die Erde.
»Kolor war ein Vampir, ja, aber er hat nie jemandem etwas angetan. Er ernährte sich nur von Tieren, und in der Zeit, als wir zusammen waren, brauchte er nicht einmal deren Blut. Meine Liebe genügte ihm.«
Ich spürte, dass ich gerührt war, aber ich schluckte meine Tränen hinunter, um die Erzählung meiner Mutter nicht zu unterbrechen und möglicherweise zu riskieren, dass sie nie wieder davon sprach.
»Alles schien bestens zu laufen, bis ich eines Tages feststellte …«, sie holte tief Luft, »dass ich … schwanger war.«
»Mit mir?«
»Mit dir.«
Sie ballte die Fäuste.
»Ich hatte schreckliche Angst. Ich sagte ihm nichts davon. Ich wusste nicht, was tun. Ich wusste nicht, ob wir ein gemeinsames Leben führen könnten.«
Eine Träne rann ihr übers Gesicht.
»Versuche, mich zu verstehen, Thara. Ich wusste nicht, was ich auf die Welt bringen würde. Ich wollte nicht, dass mein Kind leiden würde.«
Es musste ihr sehr wehtun, sich diese Erinnerungen wieder ins Gedächtnis zu rufen. Meinetwegen musste sie in einem Schmerz wühlen, den sie längst vergessen geglaubt hatte.
»Ich beschloss, mich von ihm zu trennen«, fuhr sie fort. »Ich sagte ihm, es sei zu Ende.«
Charles senkte den Kopf.
»Er war wie von Sinnen.« Meine Mutter musste jedes Gefühl unterdrücken. »Und er machte etwas ganz Fürchterliches.«
Die Atmosphäre wurde eisig.
Die äußere Welt verschwand für ein paar Sekunden.
»Er tötete Menschen. Dann verschwand er.«
In der Mansarde ging kein Lüftchen. Sogar der Staub, der im Licht schwebte, schien stillzustehen. Ich konnte nicht glauben, dass mein Vater ein Mörder gewesen sein soll. Selbst wenn es der Natur der Vampire entsprach. In Rays Buch war er ein so nettes Geschöpf, er konnte nichts Böses getan haben!
Ich hörte jemanden hinter mir schluchzen.
Ich drehte mich um und sah, wie Charles aus dem Zimmer lief und im Flur verschwand. Dann hörte ich, wie die Tür seines Schlafzimmers auf- und wieder zuging.
»Jetzt weißt du alles«, sagte meine Mutter und rieb sich die Augen.
Ich nickte.
»Aber … hat er von mir gewusst?«
Meine Mutter schüttelte den Kopf.
»Nein. Und ich glaube, das ist auch besser so.«
Mir war nicht nach Sprechen zumute. Zum einen wollte ich nichts kommentieren, was ich nicht selbst erlebt hatte, zum anderen wollte ich meiner Mutter nicht noch mehr Sorgen machen, indem ich ihr von meinen Reisen ins Cinerarium erzählte oder von diesem Ludkar, der mich bedroht hatte. Es reichte für den Moment. Ich fragte sie nur, ob es noch etwas anderes gebe, das ich wissen müsse.
»Nein«, sagte sie. »Das ist die ganze Geschichte. Du siehst sie leibhaftig vor dir, in diesen alten Kartons, die hier herumliegen. Ich hätte sie verbrennen sollen!«
Sie ging zur Tür und blieb neben mir stehen.
»Willst du sonst noch etwas wissen?«, fragte sie, obwohl ich genau merkte, dass sie eigentlich keine Lust mehr hatte weiterzureden.
»Ludkar …«, sagte ich leise, ohne es zu merken. Wahrscheinlich, weil ich gerade an ihn gedacht hatte.
»Wie bitte?«, fragte meine Mutter.
»Nichts, nichts.«
Wir verließen das Zimmer, schlossen die Tür und gingen die Treppe hinunter.
Als wir Charles’ Haus verließen, grüßte meine Mutter weder meine Freunde noch Sally. Sie lief über den Gartenweg, den Gartenzaun entlang und entfernte sich.
Es tat mir leid, dass ich ihr Kummer gemacht hatte, aber es war notwendig gewesen. Ich ging zu Christine und Leonard, die nun fast alles Wissenswerte übers Gärtnern gelernt hatten. Sally erklärte ihnen gerade, wie man mit Blumenzwiebeln umging, als ich sie unterbrach.
»Wir müssen gehen.«
Sally umarmte mich und flüsterte mir ins Ohr: »Du musst stark sein!«
Sie schnitt ein paar Blumen für mich. Die brauchte ich jetzt wirklich. Ich musste dringend mit Nate reden. Aber zuerst wollte ich meine Freunde auf den neuesten Stand bringen. Wir verabschiedeten uns und gingen.
Nach der ganzen Aufregung war Kaffee das Letzte, was ich jetzt brauchte, aber auf Alkohol hatte ich auch keine Lust. Ich brauchte einen ruhigen Ort, an dem wir reden konnten. Zum Glück hatte ich den Schlüssel für das alte Kino dabei. Wir beschlossen, dorthin zu gehen.
»Ich bin die Tochter eines Vampirs.«
Christine und Leonard sahen mich an, ohne mit der
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