Ascheträume
Wimper zu zucken.
»Thara«, sagte mein Freund, »vielleicht hast du heute ein bisschen zu viel Adrenalin abgekriegt oder …«
»Es ist die Wahrheit«, fiel ich ihm ins Wort und zog den Bilderrahmen aus meiner Tasche.
Ohne dass Charles oder meine Mutter es gemerkt hatten, hatte ich mir das Foto ausgeborgt, auf dem Kolor zu sehen war.
Nach aufmerksamer Betrachtung würde wenigstens einer der beiden zugeben müssen, dass dieses Wesen wenig Menschliches hatte.
»Interessant!«, meinte Leo und legte die Füße auf die Sitzreihe vor ihm.
Ich erzählte ihnen die ganze Geschichte, und ihre Rührung erstaunte mich.
»Tut mir leid«, versuchte Christine, mich zu trösten. »Eine Geschichte, die wahrlich schlecht ausgegangen ist.«
»Für mich ist sie alles andere als aus! Ich muss ihn um jeden Preis finden!«
»Und wo?«, fragte Leonard.
»Vielleicht auf dem Schloss von Gorey.«
»Willst du wirklich wieder dahin?«, wollte Christine wissen. »Womöglich kommt Leo dann mit einem Alligator zurück!«
»Und Thara mit einem Vampir!«, versetzte Leonard verärgert.
Ich wollte keinen Streit, ich hatte schon genug um die Ohren.
»Hört mal«, unterbrach ich sie. »Ich fahre morgen dorthin, entweder mit oder ohne euch. Ich muss Kolor finden, nicht nur meinetwegen, sondern auch weil dieser Ludkar behauptet hat, er hätte noch eine Rechnung mit ihm offen. Ich will kein Menschenleben auf dem Gewissen haben und keine weiteren Häuser in Flammen aufgehen sehen.« Ich blickte die beiden eindringlich an. »Ich weiß nicht, wie, aber all das steht miteinander in Verbindung: mein Vater, Ludkar, das Cinerarium, Nate … Entweder finde ich die Wahrheit heraus und bringe alles in Ordnung, oder ich werde höchstwahrscheinlich sterben.«
Christine steckte ihre Hand in meine Tasche und zog die Feldflasche heraus. Sie schraubte den Deckel ab und nahm zwei Schlucke.
»Was machst du da?«, fragte ich sie.
»Wenn wir mit dir mithalten wollen, dann brauchen wir Stoff!«
Wie ein Roboter schleppte ich mich nach Hause. Ich war mir sicher, ich würde überschnappen, bevor ich noch das Schild der Apotheke sah. Die Iris baumelten in meiner Hand.
Mein Vater war ein Vampir. Nun war es raus, und es war mir nicht schwergefallen, das zu verarbeiten. Im Gegenteil, ich hätte es längst ahnen müssen. Nur wusste ich noch nicht so richtig, was Vampire eigentlich waren. Und vor allem: Was war ich? Ein Mensch? Ich hatte gewiss noch nie den Drang verspürt, Menschenblut zu trinken. Abgesehen von Jennifer Suarez’ Blut, aber das war etwas anderes. Und Ludkar? War der auch ein Vampir?
Ich musste ihn aufhalten, bevor er etwas wirklich Schreckliches tun konnte! Er war mir ziemlich gestört vorgekommen.
Ich hatte noch nie etwas über die Zeit vor meiner Geburt gehört. Und heute – als hätten sich die Erinnerungen angehäuft, um zu wachsen wie ein Schimmelpilz – war die Tür aufgeflogen, und alles hatte sich über mich ergossen.
Als ich nach Hause kam, merkte ich gleich, dass meine Mutter nicht da war. Die Rollläden waren heruntergelassen, und das einzige Licht im Wohnzimmer kam aus dem Aquarium. Ich sah im Kühlschrank nach den Iris. Meine Mutter hatte sie nicht angerührt. Ich machte die Kühlschranktür wieder zu und setzte mich an den Küchentisch.
Mein Kopf war schwer wie Blei.
Ich musste die Situation klären oder ich würde zusammenbrechen.
Mein Vater war ein Vampir.
Ich war die Tochter eines Vampirs und eines Menschen. Die Iris verliehen mir die Fähigkeit, in eine Welt aus Asche zu reisen. In dieser Aschewelt landeten die Seelen von Menschen, deren Leben an einem Faden hing, wie die von Susan, Penny und Clayton.
Nate war in dieser Gleichung eine noch unbekannte Größe, aber wahrscheinlich lag auch er im Koma.
In der Aschewelt tauchte alles wieder auf, was in der Wirklichkeit verbrannt war. Ein Wesen namens Ludkar, das aussah wie ein Vampir, hatte gesagt, dass er mich im Cinerarium gesehen habe. Und dass er mich am Geruch erkannt habe, demselben Geruch wie der meines Vaters.
Bis hierhin war alles klar.
Aber ich hatte Ludkar in der wirklichen Welt gesehen, er hatte meine Schule in Brand gesteckt. Wie war es möglich, dass er sich sowohl im Cinerarium als auch in der Wirklichkeit befand? Vielleicht konnte auch er im Schlaf reisen, so wie ich.
Seufzend legte ich die Stirn auf den Tisch.
Er hatte eine Rechnung mit meinem Vater offen und hatte mich bedroht. Wahrscheinlich konnte er Kolor nicht finden und dachte, dass ich wüsste, wo
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