Ascheträume
er war.
Ich musste eine Erklärung von ihm verlangen. Auch wenn er verschroben und alles andere als liebenswürdig war, schien er doch genau zu wissen, was er tat. Er hatte Leos Handy gestohlen und Christine die SMS geschickt. Es verstörte mich, dass er auch über meine Handlungen informiert schien, sei es hier oder im Cinerarium. Und wenn es ihm so wichtig gewesen war, mich zu finden, warum hatte er mich nicht schon früher gesucht?
Ich legte eine Wange auf den Tisch, die Iris standen vor mir.
»Also gut!«, sagte ich und atmete den violetten Duft ein.
Ich dachte an unsere Zuflucht.
Und fand mich unter dem Baumhaus wieder.
»Nate!«, rief ich, als ich aufstand.
Der Wald war beruhigend still, der graue Schnee rieselte langsam herab. Für mich war er ein Ort der Ruhe geworden. Ich fühlte mich beschützt, dennoch war ich noch immer besorgt. Als ich mich an der Leiter festhielt und hinaufsteigen wollte, erinnerte ich mich an das, was beim letzten Mal passiert war: Nate hatte mich berührt, und meine Hand war zu Asche verbrannt. Auch mit ihm gab es nun keine Unbeschwertheit mehr. Bei der kleinsten Berührung würde der Schmerz mein Fleisch durchfahren, und das Cinerarium würde es in Besitz nehmen.
Dieser Ort war eine Erfindung, um verrückt zu werden. Es wunderte mich nicht, dass der Großteil derer, die hier landeten, sich fast umgehend in Graue verwandelte. Als ich die Falltür aufmachte und ins Baumhaus krabbelte, war Nate nirgends zu sehen. Ich dachte, er sei vielleicht in dem hohlen Baum, aber als ich nachsah, war da nur ein dunkles Loch.
Dafür lag die alte Handschrift, die wir in der Bibliothek von Alexandria gefunden hatten, auf einem kleinen Schemel. Nate hatte sie hierhergebracht, damit wir sie aufmerksam studieren konnten. Ich wollte sie mit ihm zusammen durchblättern, aber die Lage war zu ernst, als dass ich mir erlauben konnte, auf ihn zu warten. Ich nahm das Buch und staunte, wie leicht es sich anfühlte. Trotz seines Umfangs wog die Asche, aus der es bestand, fast nichts.
Ich setzte mich damit in eine Ecke. Vielleicht würde Nate in wenigen Minuten kommen; ich wusste, dass er sich beeilen würde, denn dies hier war unser Ort.
Ich seufzte und versuchte, nicht traurig zu werden. Ich spürte, wie sich meine Stirn zusammenzog und sich kräuseln wollte – in diesem Moment hätte ich gerne umarmt werden wollen, ich wollte Nate neben mir spüren. Aber selbst wenn er hier bei mir gewesen wäre, eine Umarmung wäre nicht mehr möglich gewesen. Sie hätte den Tod bedeutet.
Das Buch. Ich musste mich auf das Buch konzentrieren.
Ich strich mit der Hand über den Umschlag. Der Titel war in fremdartigen Hieroglyphen geschrieben.
Ich schlug die Seite mit der Illustration auf. Dieses Mal würde ich sie genau studieren.
Die Zeichnung zeigte drei Kreise oder Kugeln, die übereinandergestellt und miteinander verbunden waren wie eine Sanduhr.
Der oberste Kreis stellte die wirkliche Welt dar. Man sah eine Pyramide und davor eine liegende Person, wahrscheinlich im Koma.
Der zweite war das Cinerarium. Die Aschewelt.
Ein interessantes Detail war der Strahl, der vom Kopf der Person im oberen Kreis ins Cinerarium mit dem schwarzen Mond fiel.
Der dritte Kreis war ganz schwarz, und nur die Asche aus dem Cinerarium tropfte durch eine Öffnung hinein.
Vielleicht sollte er den Tod darstellen, das absolute Nichts.
Ich begann zu lesen, das heißt die lateinischen Erläuterungen zu übersetzen. Zum Glück war die Sprachebene sehr einfach, und die Erläuterungen waren klar voneinander abgesetzt. Da stand:
»Die Große Aschewüste ist eine Mittelwelt zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten.«
Das hatte ich inzwischen begriffen. Ich las weiter:
»In die Große Aschewüste fallen die Seelen der Menschen, deren Körper in der Welt der Lebenden noch lebendig ist.«
Das waren eindeutig Menschen im Koma.
»Die Seelen treten durch einen dunklen Tunnel in die Große Aschewüste ein, an dessen Ende ein helles Licht strahlt. Sind die Seelen in der Großen Aschewüste angekommen, wird ihnen der Ausgang des Tunnels als ein schwarzer Mond erscheinen.«
Ich bekam Gänsehaut. Na klar! Der Tunnel und das Licht! Viele Menschen, die wieder aus dem Koma erwacht waren, berichteten davon, wie sie gedacht hatten, ins Paradies zu kommen. In Wirklichkeit war das Licht, das sie gesehen hatten, das Licht des Cinerariums. Spontan richtete ich mich auf, weil ich mich fragte, ob es möglich war, den Tunnel auch in der
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