Ascheträume
undurchdringlicher, und die Antworten darauf schienen an einem anderen Ort zu liegen.
In der Stadt setzte Leo erst Christine ab, dann fuhr er mich nach Hause. Es wurde Abend, und trotz des ereignisreichen Tages war ich voller Energie. Ich verabschiedete mich von Leo und ging mit der Schatulle unterm Arm die Treppen hinauf. Zuvor lauschte ich, ob meine Mutter zu Hause war. Ich wollte nicht, dass sie beim Anblick der Schatulle ähnlich reagierte wie auf das Buch. Zum Glück war die Wohnung leer.
In meinem Zimmer stellte ich die Schatulle auf den Schreibtisch und betrachtete sie aufmerksam. Es gab keine Möglichkeit, sie aufzubekommen. Selbst mit einem Schweißgerät wäre es schwierig gewesen, ganz zu schweigen von der Gefahr, den Inhalt dabei zu verbrennen. Ich beschloss, sie im Schrank unter meinen Pullovern zu verstecken. Dort steckte meine Mutter ihre Nase nie hinein. Es war mir gelungen, sie irgendwann davon zu überzeugen, dass alles Wichtige unter dem Bett versteckt war. Für den Moment war meine Schatulle in Sicherheit und ich auch. Ich hatte weder eine Ahnung, was darin war, noch, warum man sie im Schloss zurückgelassen hatte, aber es musste wichtig sein. Der Wunsch, meinen Vater sofort zu finden, wurde noch stärker. Ich wollte es auch für Nate tun. Ich musste ihm unbedingt beweisen, dass Ludkar gelogen hatte. Ich musste es ihm – und vor allem mir selbst – beweisen.
Im Moment wusste ich noch nicht so recht, wie ich weitermachen sollte. Das Schloss hatte Früchte gebracht, aber sie mussten erst reifen. Die andere Quelle, aus der ich schöpfen konnte, waren die Kartons in Charles’ Mansarde.
Ich wartete, bis meine Mutter von der Arbeit kam. Ich hatte Abendessen gemacht, damit sie sich besser fühlte. Ich war nicht sicher, ob sie begriffen hatte, dass ich ihr nichts anlastete.
Als sie kam, aßen wir zusammen im Wohnzimmer. Ich hatte Musik aufgelegt, damit das Schweigen uns nicht erdrückte. Es war eine getragene Melodie, die ihr gefiel. Während sie langsam das Hühnchen aß, das ich zubereitet hatte, fing sie an zu schluchzen. Klirrend fiel ihr das Besteck aus der Hand, und sie brach in Tränen aus. Ich ging zu ihr und nahm sie in den Arm. Sie war verstört. Ich konnte mich nur beherrschen, weil ich in Gedanken woanders war.
Ohne ein Wort stand sie auf und ging in ihr Zimmer. Ich seufzte. Vielleicht hätte ich sie trösten sollen, aber mir war nicht danach.
Ich schaltete die Musik aus, trank eine Tasse Kaffee und machte mich fertig, um aus dem Haus zu gehen. Ich sagte meiner Mutter nichts, und sie merkte auch nichts. Ich ging, ohne Lärm zu machen.
Auf dem Gehweg sah ich auf die Uhr. Es war zehn. Unwahrscheinlich, dass ein Mann wie Charles um diese Zeit schon schlief. Also ging ich zu seiner Villa.
Als ich klingelte, öffnete mir Sally. Sie schaute gerade fern und freute sich sehr, mich zu sehen.
»Wie geht’s dir?«, fragte sie und bot mir einen Platz an.
»Gut … glaube ich.«
»Willst du Kaffee?«
Ich sagte ja, und wir gingen in die Küche. Ich sah mich um.
»Und Charles?«
Sally hielt inne, während sie mir den Kaffee eingoss.
»Er ist ausgegangen«, sagte sie heiter.
»Ich habe mich gefragt, ob ich wohl einen Blick in die Kartons oben werfen könnte.«
»Aber sicher, meine Liebe«, sagte Sally lächelnd, während sie sich umdrehte und die Tassen mit dem heißen Kaffee auf den Tisch stellte. »Charles hat mir alles erzählt.«
Kurz wurde sie ernst, dann lächelte sie wieder.
»Ich möchte mehr über meinen Vater erfahren. Hast du ihn gekannt?«
»O ja!«, sagte sie, ohne sich zu setzen. »Ja. Aber jetzt entschuldige mich, ich will den Film zu Ende schauen.« Sie ging und ließ mich allein.
Sie war wirklich eine merkwürdige Frau. Ich zuckte mit den Achseln und schlürfte meinen Kaffee. Na ja, sie war Charles’ Frau, also musste sie ja zwangsläufig etwas seltsam sein …
Ich trank aus und ging zur Treppe. An der Wand suchte ich nach dem Lichtschalter des oberen Stockwerks, konnte ihn aber nicht finden. Ich wollte Sally nicht noch einmal stören, also beschloss ich, im Dunkeln hinaufzugehen. Ich meinte, den Weg gut zu kennen. Oben wollte ich mich an der Wand entlangtasten, aber da stand so viel Zeug herum, dass ich dabei bestimmt etwas umgeworfen hätte.
Endlich hatte ich die richtige Türklinke erwischt.
Ich drückte sie herunter. Den Lichtschalter fand ich dieses Mal sofort.
Doch dann sah ich, dass ich fälschlicherweise in Charles’ und Sallys Schlafzimmer gelandet
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