Ascheträume
mich.
Ich schickte ihn zum Teufel.
Als ich wieder aufwachte, waren all die schrecklichen Gefühle, die ich im Cinerarium verspürt hatte, noch da. Ich setzte mich auf. Nein, es konnte nicht wahr sein! Ludkar hatte gelogen. Nate konnte nicht wirklich tot sein. Das durfte nicht sein!
Doch die Zweifel waren so beharrlich, dass ich mich nicht vom Gegenteil überzeugen konnte, auch wenn ich es noch so sehr versuchte. Und außerdem: Wie kam es, dass Nate Kolor kannte? Ich würde Charles dazu befragen müssen, sobald ich zurück wäre.
Dann wurden meine Unsicherheit und der brennende Wunsch, die Wahrheit zu erfahren, von einem neuen, genauso fürchterlichen Gedanken verdrängt: Wenn mein Vater, wie Ludkar sagte, zu einer Bestie geworden war und Nate getötet hatte, konnte er noch immer eine Gefahr sein. Vielleicht hatte ich mich geirrt, und Kolor lebte doch noch im Schloss. In diesem Fall wären meine Freunde in größter Gefahr.
Mein Körper war kalt geworden, nachdem ich so lange auf dem Boden gelegen war, und als ich aufstand, fröstelte mich noch mehr.
Ich wollte nach Christine und Leonard rufen, als ich sie schon auf mich zukommen sah. Gelassen plaudernd liefen sie zwischen den Säulen hindurch. Sie sahen nicht so aus, als wären sie einem blutrünstigen Vampir begegnet.
»Gut geschlafen?«, fragte Leo, als er mein mitgenommenes Gesicht und die welken Iris auf dem Boden sah.
»Nein, überhaupt nicht«, sagte ich und rieb mir die Augen. »Ich habe Nate und Ludkar getroffen.«
Christine kam auf mich zu, um mich zu stützen. Mir war noch immer schwindlig.
»Angeblich … hat mein Vater Nate getötet.«
»Aber hast du nicht gesagt, dass ins Cinerarium nur …?«, fragte Leo zu Recht.
»Ich weiß, was ich gesagt habe!«, sagte ich eine Spur zu schroff und war nun richtig wach.
Meine Freunde sahen mich erwartungsvoll an.
»Ich weiß nicht, ob es stimmt, dass Nate tot ist und mein Vater ihn umgebracht hat«, lenkte ich ein. »Vielleicht liegt er auch nur im Koma wie Penny und Susan. Aber Ludkar hat etwas gesagt, das wahr sein könnte: Wenn ein Vampir einen Menschen tötet, bleibt dessen Blut für immer in seinem Körper. Da also ein Teil des Ermordeten weiterhin in der Wirklichkeit bleibt, kommt dessen Seele ins Cinerarium. Okay?«
»Ein bisschen verdreht …«, meinte Christine.
»Und Nate hat keine Erinnerungen mehr, weil sein Geist zerstört wurde.«
»Das klingt wirklich plausibel.« Leo rieb sich das Kinn.
Ich brauchte noch Zeit, um all diese Informationen zu verarbeiten – ich würde später darüber nachdenken.
»Habt ihr etwas entdeckt?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln.
Christine nickte.
»Keine Spur von deinem Vater, aber …«
Sie führten mich durch lange Gänge und eine schmale Wendeltreppe hinunter, die in die Erde geschlagen worden war.
Wir kamen in eine Art Verlies oder eher in einen Weinkeller, woraus ich schloss, dass dieses Gebäude nicht älter als dreihundert Jahre sein konnte.
Wir gingen durch fast vollständige Dunkelheit, bis Leo schließlich eine Tür aufmachte.
»Schau mal«, sagte er, ging an die rechte Wand und kniete sich hin.
Auf dem Boden stand eine Eisenschatulle. Sie sah ziemlich neu aus oder zumindest nicht älter als das Schloss.
»Komm«, forderte Leo mich auf.
Ich kniete mich neben ihn und las, was auf dem Deckel stand: Kolor .
Ich nahm die Schatulle und stand wieder auf. Sie war sehr viel schwerer, als ich gedacht hatte.
»Was glaubst du, ist da drin?«, fragte Christine.
»Keine Ahnung. Habt ihr versucht sie aufzumachen?«
»Sie ist verschlossen.«
Da sie ganz aus Eisen war, konnte man sie nicht öffnen.
»Habt ihr nachgesehen, ob es irgendwo einen Schlüssel gibt?«, fragte ich.
»Die Mäuse sagten: ›Nein‹«, erwiderte Christine ironisch.
»Hm, wir werden das Ding schon irgendwie aufkriegen.«
Wir verließen das Schloss, die geheimnisvolle Schatulle nahmen wir mit. Für mich und Christine war der Rückweg kein Problem. Leo, der sich angeboten hatte, die Schatulle zu tragen, hatte es schwerer. Beim Abstieg stolperte und purzelte er mehrere Male den Hang hinab.
Am Auto angekommen, warf ich einen letzten Blick auf die Hügel, die den See säumten. Von hier aus konnte man das Schloss nicht mehr sehen, aber ich stellte mir vor, wie mein Vater mich von dem höchsten Turm aus beobachtete. Was für Sonnenuntergänge und Monde er von dort oben wohl schon betrachtet hatte?
Wir stiegen ein und verließen Gorey.
Die Rätsel wurden immer
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