Ash Mistry und der Zorn der Kobra (German Edition)
war es schlimmer als auf dem Friedhof.
Der Bungalow war unbewohnt. Das morsche Holz wölbte sich, die Bank auf der Veranda knarzte und über die Weidenstühle flitzen ein paar Eidechsen davon.
»Das hat seit Jahrzehnten keiner mehr benutzt«, stellte Ash fest. An einem Schild am Hauptweg blieb er stehen. Ein gelbes und verwaschenes Poster war dort angeschlagen, das einen kirchlichen Liederabend mit anschließender Teegesellschaft am 13. März 1941 ankündigte. Daneben hingen eine kleine Karte mit der Suchanzeige nach einer Katze und eine Liste mit den Sommersaison-Veranstaltungen des Kricket-Teams der Armee.
Die reinste Zeitreise , dachte Ash. Schön, vielleicht nicht in einer blauen Notrufzelle oder durch irgendein Wurmloch im Raum, doch Ash konnte deutlich spüren, wie dieser Ort früher einmal gewesen sein musste, als die Briten hier lebten. Sie hatten die Garnison in ein kleines Stück England verwandelt, mit Teegesellschaften auf dem Rasen und Sonntagen mit dem Vikar. Den ganzen weiten Weg waren sie gekommen, ohne ihre erzenglischen Ansprüche und Gepflogenheiten hinter sich zu lassen. Im Gegenteil, sie hatten ihr Bestes getan, Indien auszusperren und dafür zu sorgen, dass es jenseits der Mauer blieb.
Und was ist davon geblieben? Mottenzerfressene Möbel, verrottete Bungalows und auch ihr penibler englischer Rasen war dem Dschungel zum Opfer gefallen.
John und er drangen weiter ins Innere der Garnison vor. Auch hier füllten Statuen die Wege und lungerten im saftigen Grün.
Die Hände in die Hüften gestemmt, blickte Ash eine Kreuzung auf und ab. Zu jeder Seite standen weitere Bungalows und direkt vor ihnen lag ein Truppenübungsplatz. »Lass uns dort mal nachsehen.« Falls sie wieder nichts fanden, würden sie umkehren.
Der Platz wurde auf zwei Seiten von Bürogebäuden eingefasst, an deren Kopfseite eine teils eingestürzte, aber nach wie vor prächtige Empfangshalle lag – eine merkwürdige Mischung aus englischem Herrenhaus und indischem Palast mit Kuppeldächern, Zinnen und Türmchen. Doch auch sie wurde vom Dschungel erstickt, wie von einem grünen Riesen, der das eingefallene Dach mit unzähligen Armen umfasste. Hohe Mangrovenbäume drückten ihre kräftigen Wurzeln wie monsterhafte Tentakel durch die Fenster.
Ash trat auf den offenen Platz.
Was ist hier faul?
Er ging in die Knie und betrachtete das Gras entlang der Kante. Die Halme waren unterschiedlich lang, doch als er darüberfuhr, fühlte er saubere, diagonale Kanten.
»Jemand hat das Gras gemäht«, stellte er fest.
Das konnte, musste aber nichts bedeuten. Er musterte die Statuen, die am äußeren Rand des Platzes standen. Eine Nachbildung des David erweckte seine Aufmerksamkeit. Es war eine gute Arbeit, doch etwas daran stimmte nicht. Das Gras ringsum war niedergetrampelt, begriff er dann. Große Flächen waren so platt, als wäre eine ganze Armee darübergewalzt.
Aber wo steckte diese Armee? Außer Skulpturen gab es hier nichts.
»Das hat keinen Sinn«, sagte Ash. »Lass uns gehen.«
»Nein. Lass uns weitersuchen, bis wir ganz sicher sind.«
»Du hast dich wirklich verändert, John. Im Lalgur warst du noch ganz anders.«
»Es hat mich echt viel Mut gekostet, dir dabei zu helfen, von dort zu fliehen.« John wandte ihm den Rücken zu. »Und wozu?«
»Was soll das heißen?«
»Du weißt es wirklich nicht mehr, oder?« Er blickte Ash direkt an. In seinem Gesicht lag Wut, eine solche Wut, dass Ash richtig erschrak: grausam und voller Hass. »Wir hatten eine Abmachung, Ash.«
»Aber du bist doch auch geflohen! Du hast gesagt, dass du es rausgeschafft hast.«
»Oh ja. Das habe ich. Ich bin rausgekommen. Und ich habe eine ganze Reihe neuer … Freunde gefunden.«
»Wen, John?« Kälte breitete sich in Ash aus.
»Freunde, die mir Geld gegeben haben. Die mir wirklich dabei geholfen haben, meine Mutter zu finden. Die ihr noch immer jeden Monat tausend Rupien schicken.«
»Was für Freunde, John?«
John blickte Ash in die Augen. »Was würdest du alles tun, um deiner Familie zu helfen?« Er stieß Ash von sich und zog sich hinter die Standbilder zurück. »Es tut mir nicht leid. Ich will, dass du das weißt: Es tut mir nicht leid.«
Ash spannte sämtliche Muskeln an und schaute sich lauernd um, während John in der Dunkelheit verschwand. Doch nichts geschah. Er war von leblosem Stein umgeben. Dann sah er erneut zu der Statue des David.
Das scharrende Wetzen von Stein auf Stein durchschnitt die Stille der Nacht, als David
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