Ashby House
Panoramafenster gaben den Blick auf die Auffahrt frei, die die beiden gerade entlanggekommen waren. Die Wipfel der schneebedeckten Bäume ragten wie knochige Finger Gnade erbittend in den Himmel. Unter dem Gewicht des Schnees ächzten und knarrten die Äste so laut, dass es trotz des knisternden Feuers zu hören war. »Überall in der Welt könnten wir sein, und ausgerechnet hierher musst du uns bringen.«
»Überall in der Welt könntest
du
sein. Ich muss mich auf Orte beschränken, die ich hiermit erreichen kann.« Lucille schlug mit der flachen Hand gegen das Rad ihres edlen Gefährts.
»Mä mä mä mä …«, murmelte Laura vor sich hin, während sie den letzten geschlossenen Vorhang zurückzog und sich im nun ausreichend erhellten Raum umsah, den Kamin und den Anblick ihrer Schwester davor vermeidend. Steinerner Fußboden, der bösartige Kälte abstrahlte, die unter dem Rock ihre Beine heraufkroch. Vereinzelt Teppiche mit Blumenmustern, deren Flor abgetreten war und deren einst prächtige Farben verblasst waren. Wuchtige Schränke, verziert mit Holzschnitzereien, die an Wasserspeier gothischer Kathedralen erinnerten. Und entlang der Treppe, die ins erste Geschoss führte, eine Vielzahl von Gemälden, aufgehängt in zufällig wirkender Anordnung, über denen nochdie einst weißen, jetzt jedoch grauen Leinentücher hingen, mit denen auch die Möbel abgedeckt gewesen waren. War schon der Anblick dieses Raumes zu viel für Lauras Geschmack, so war es der Geruch, der diesen Ort zu einem Albtraum machte. Je mehr die vom offenen Feuer aufsteigende Wärme die alten Mauern durchdrang, desto unerträglicher wurde der Moder alter Bücher, maroder Seidentapeten und verrottender Gobelins, an denen sich Generationen von Ungeziefer schadlos gehalten hatten. Laura hatte schon jetzt genug Vergangenheit gesehen und gerochen, und sie hatte keinerlei Verwendung für die Relikte wildfremder Toter. »Es heißt nicht umsonst Alte Welt, was?«
Lucille ignorierte die Bemerkung.
Ihre Reise hatte vor zwei Wochen ihren Anfang genommen. Sie waren in New York an Bord gegangen, und Tag für Tag auf See musste sie mit ansehen, wie Lucilles Blick über die Weiten des Ozeans wanderte, um dann tief in Lauras Augen zu versinken. Ein unausgesprochener Vorwurf. Das Meer. Der »Unfall«. Laura hätte schwören können, dass Lucille dieses Ritual jeden Tag aufs Neue genüsslich zelebrierte.
Die Menschen an den Tischen tuschelten, wenn Lucille in den Raum rollte, und verstummten, wenn sie sich des Geräusches bewusst wurden, das ihr alarmiertes Gemurmel erzeugte. Dennoch oder möglicherweise gerade deshalb bestand Lucille darauf, das Essen nicht in der Kabine, sondern im Saal einzunehmen. Laura war spätestens jetzt klar, dass jede weitere Stunde, jeder Tag, jede Woche, jeder Monat, den sie in Gesellschaft ihrer Schwester verbrachte, von Sticheleien und demonstrativen Demütigungen geprägt sein würde. Sie würde sich davon befreien und irgendwo einen Raum, einen Ort des Rückzugs finden müssen.
Das Pfeifen des Wasserkessels riss sie zurück in die beklemmende Gegenwart der Küche von Ashby House. Der Raum war so groß wie das Apartment, das sie mit Lucille bewohnt hatte, als diese am Anfang ihrer Karriere stand. Dunkle Balken aus unbearbeitetem Holz spannten sich über die Decke und schienen sich in kaum feststellbaren Intervallen herabzusenken und den Raum zusammenzudrücken. Versuchte man, sie bei der Bewegung zu erhaschen, waren sie jedoch immer an ihrem alten Platz. Laura wünschte, sie hätten in ihrer Reiseapotheke ein Mittel, das ihr die Übermüdung nähme, aber ihre Schwester tendierte eher zu beruhigenden und schmerzhemmenden Medikamenten.
Die Wasserleitungen in der Küche waren eingefroren, also hatte sie ihren Mantel übergeworfen und mit einem Blecheimer Schnee geschöpft. Nachdem sie das Wasser aufgesetzt hatte, war sie durch die Räume gegangen und hatte jede verfügbare Lampe mit Petroleum gefüllt. Harker hatte einen Korb mit Utensilien, die für das Überleben in den ersten Tagen und Nächten in Ashby House vonnöten sein würden, auf der Küchentafel deponiert: Wachskerzen, Petroleum, Anmachholz sowie eine Auswahl an Lebensmitteln, angesichts derer Laura die Augenbrauen hochzog. Haferschleim entsprach nicht gerade dem, was sie sich unter einem schmackhaften Frühstück vorstellte … Von den Gaslampen erhoffte sie sich ein wenig zusätzliche Wärme, außerdem übertönte der Geruch brennenden Petroleums den
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