Ashby House
Straßen waren an diesem Vormittag geräumt. Der Schneesturm hatte sich in der Nacht gelegt, und heute grieselte es nur leicht.
Die Granitbauten hoben sich farblich kaum vom Winterhimmel ab. Um die Mittagszeit hatte in St. Just kaum ein Geschäft geöffnet, und so beschloss Laura, gleich bis Penzance weiterzufahren. Obwohl sie nicht wusste, für wen sie erreichbar sein beziehungsweise wen sie anrufen wollte, besorgte sie sich ein Mobiltelefon – der Gedanke, ohne Telefonleitung zu sein, machte sie unruhig.
Die Straßen von Penzance waren nicht stärker bevölkert als die von St. Just. Der für diesen Landstrich, dessen Klima eigentlich durch den warmen Golfstrom begünstigt wurde, unerwartet heftig ausfallende Winter hielt die Menschen in ihren Wohnungen fest, in denen brustschwache britische Radiatoren vermutlich auf Hochtouren liefen und in diesem Januar für einen rekordverdächtigen Stromverbrauch sorgten.
Der besondere Charme der Küste Cornwalls drang nicht zu Laura durch, was vor allem an dem verhassten Wetter lag. Ihre Küste war die Küste Kaliforniens, und die Kombination von Ozean und Schnee empfand sie als geradezu pervers. Ihre Laune wurde nicht besser, als sie feststellte, wie teuer Zigaretten in England waren und dass Informationen über kohlenhydratarme Kost es noch nicht über den Ozean geschafft hatten: kein Dr.-Atkins-Erdnussriegel weit und breit. Ihre Laune hob sich erst, als sie eine Videothek entdeckte, in der sie sich mit Hollywood-Filmen eindeckte. Zumindest die Abende waren gerettet. Ein attraktiver Mann in Yves-Saint-Laurent-Mantel (mit Silberfuchsbesatz am Revers!) hielt ihr lächelnd die Tür auf, und sie schöpfte Hoffnung, was die Stadtbevölkerung anbelangte. Sie konnte es sich nicht verkneifen, ›Moulin Rouge‹, ›Return to Cold Mountain‹, ›Dogville‹, ›The Human Stain‹ und natürlich ›Eyes Wide Shut‹ zu erstehen, bezahlte ihre DVDs und verließ den Laden.
Als sie ihre Einkäufe in dem äußerst unpraktischen Mini Cooper zu verstauen begann, der noch dazu eine Gangschaltung besaß, fiel ihr Blick auf eine Häuserwand, auf der die Aufschrift »Hawkins Solicitor« prangte. Sie lud ihre Tüten ab, verschloss die Tür des Wagens und stattete der Anwaltskanzlei, die Lucilles Hauskauf abgewickelt hatte, einen Besuch ab.
»Miss Shalott, wie schön, Sie zu sehen! Ist in Ashby House alles zu Ihrer Zufriedenheit?«
»Danke, Mister Hawkins, es könnte für meinen Geschmack ein paar Grad wärmer sein.«
»Wem sagen Sie das, wem sagen Sie das! So eine Kälte hatten wir hier noch nie. Wenn wir gewusst hätten, dass Sie so bald schon eintreffen, hätte ich Steerpike einige Tage frühergeschickt, das Haus aufzuheizen. Harker, mein Name. Mister Hawkins ist gerade in Osteuropa. Wir haben Scherereien mit einem Anwesen, das wir dort verwalten.«
»Harker – ich verstehe. Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie eine unglaubliche Ähnlichkeit mit Keanu Reeves haben?«
Der Name sagte ihm nichts, aber ihrem Ton entnahm er, dass es sich um ein Kompliment handeln musste. »Wie charmant, Miss Shalott, ganz reizend, ganz erfrischend.«
»Das ist mein Ernst, Mister Harker. Wie aus dem Gesicht geschnitten!«
Der Mittdreißiger errötete angemessen und schenkte Laura frischen Tee ein.
»Sagen Sie, Mister Harker, wie sind Sie ausgerechnet auf Ashby House gekommen?«
»Ich verstehe nicht?« Er lächelte charmant und aufrichtig irritiert.
»Wie kamen Sie darauf, uns ausgerechnet Ashby House zu verkaufen? Sie müssen wohl Gedanken lesen können – so ein reizendes Anwesen!«
»Soweit ich weiß, Miss Shalott, hat Ihre Schwester sich ganz gezielt nach Ashby House erkundigt. Und eine hervorragende Wahl getroffen, wenn Sie mich fragen. Es gibt nur wenige Immobilien in einer solchen Lage und dann noch zu einem so günstigen Preis!«
Laura lächelte, wohl wissend, dass der Name der Käuferin den tatsächlichen Preis vermutlich noch einmal um ein Drittel gesteigert hatte. »Aber warum sollte Lucille ein Haus in einem Landstrich kaufen, von dem sie nicht einmal wusste, dass es ihn gibt?«
Sein Lächeln fiel etwas weniger enthusiastisch aus, nachdem sie seine Heimat beleidigt hatte. »Das erfahren Sie vermutlicham besten von Ihrer Schwester. Möglicherweise, aber das ist nur eine persönliche Spekulation, gehört sie zu den Millionen von Leserinnen der weltweit geschätzten Schriftstellerin Rosamunde Pilcher, die ihre Romane gern in den pittoresken Landschaften des ländlichen
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