Ashby House
gellenden Schrei und riss abrupt ab. Dann war es vorbei.
Laura war sicher, dass ihre Sinne sie nicht getrogen hatten, auch wenn ihr Verstand ihr sagte, dass es unmöglich war. Bevor die Tür zum Turmzimmer ins Schloss gefallen und polternd der massive Eichenholzriegel herabgesaust war, hatte Ashby House einen weiteren Beweis für seine okkulten Kräfte geliefert: Der Schal, Lucilles Vikunja-Schal, hatte sich vor ihren Augen in Luft aufgelöst.
Es dauerte eine Weile, bis Laura und Steerpike sich langsam und argwöhnisch aus ihrer kauernden Haltung aufrichteten. Der Wind hatte sich gelegt. Kein Geräusch drang durch die nächtliche Stille außer dem leisen Klirren von Scherben und Splittern, die sich aus ihrer Kleidung lösten und auf den Fußboden fielen, als sie sich erhoben.
Diesmal war es Steerpike, der die Initiative ergriff. Er legte seine Hand auf den Türknauf, drehte und drückte. Nichts. Die Tür zum Turmzimmer war wieder verschlossen, der schwere Balken, der die Tür von innen verriegelte, vorgeschoben.
Die Ruhe lag gewichtiger über ihnen als der Lärm des Sturms zuvor.
»Haben Sie das gesehen?«
Steerpike nickte stumm, dann drehte er sich um und ging mit immer eiliger werdenden Schritten den Korridor entlangRichtung Ballsaal. Als Laura die Tür erreicht hatte, sah sie ihn die Treppe nach unten rennen. Sie hatte keine Eile. Sie ahnte, was er vorfinden beziehungsweise nicht vorfinden würde. Auch Mowgli war jetzt ruhig und begleitete sie geräuschlos durch den Saal. Oben auf der Treppe verharrte sie einen Augenblick, dann drehte sie sich nach links. Die Tür zum Dunklen Raum stand offen, doch war es nicht dieses Zimmer, zu dem es sie jetzt magisch hinzog. Sie ging auf die Tür daneben zu.
Durch die geöffneten Vorhänge drang das Mondlicht kalt und hart ins Anrichtezimmer. Laura wusste bereits, bevor sie nach rechts blickte und die offenen Türen sah, dass der Lastenaufzug betätigt worden war. Was vor ihr auf dem Boden lag, sprach eine ebenso deutliche Sprache. Sie spürte, wie etwas ihr die Luft abschnürte, wie ihr Herzschlag kurz aussetzte, um gleich darauf in ein wildes Stakkato auszubrechen. Zu ihren Füßen lagen, wie mit brachialer Wucht gegen die Wand des Zimmers geschleudert, die Trümmer von Lucilles Rollstuhl.
Die Bilder eines anderen Schreckenserlebnisses stiegen vor ihrem inneren Auge auf … Sie waren an Deck, die Sonne hatte grell auf das Wasser geschienen, aber auf einen anderen Ozean, und die Luft war heiß – war das der Anfang vom Ende eines recht erträglichen Lebens gewesen? Damals war sie lediglich als gebranntes Kind aus dem Erlebnis hervorgegangen. Ein zweites Mal würde es ihr niemand durchgehen lassen, wenn Lucille etwas zugestoßen war. Lucille Shalott schien einen Unglücksengel zu haben. Und dass dessen Name Laura war, daran würde die Presse keinen Zweifel lassen.
TEIL 2
VERSCHWINDEN UND ANDERE RENDEZVOUS
Don’t you know – it could be so beautiful.
Carlisle
KAPITEL 12
Sie hatten die ganze Nacht lang nach ihr gesucht. Mit wenig Hoffnung und ohne Erfolg. Lucille Shalott blieb verschwunden.
Immer wieder führte der Hund sie vom Wintergarten zum Lastenaufzug in der Küche und im zweiten Stock vom Anrichtezimmer zum Turmzimmer. Es war klar, welchen Weg Lucille freiwillig oder unfreiwillig gegangen war. Aber wie sie abhandengekommen war, entzog sich einer Erklärung. Steerpike und Laura waren zwar Zeugen geworden, wie Lucilles Schal sich entmaterialisierte, aber diese Beobachtung brachte sie der Wahrheit keinen Schritt näher, sondern warf vielmehr neue Fragen auf. Was war im Anrichtezimmer geschehen? Welche Macht hatte Lucilles Rollstuhl zermalmt? Wie war sie ohne ihr Gefährt ins Turmzimmer gelangt? Wo war sie jetzt?
Die Morgendämmerung kroch über das Haus. Steerpike und Laura saßen bei einem heißen Kaffee in der Küche. In Kürze würde Rose Marsh eintreffen. Was würde man ihr erzählen? Musste man ihr überhaupt etwas erzählen?
»Es ist zumindest beruhigend, dass nirgends ein Tropfen Blut zu sehen ist«, begann Steerpike.
»Ich weiß nicht, warum mich das beruhigen soll. Haben Sie nie ›Dracula‹ gesehen?«
»Miss Shalott, ich glaube, wir können ausschließen, dass Ihre Schwester von einem Vampir verschleppt wurde.«
»Und wie können Sie da so sicher sein, Mister Van Helsing? Ich möchte seit gestern Nacht gar nichts mehr ausschließen. Ich habe in einer einzigen Stunde mehr unerklärliche Phänomene am eigenen Leib erfahren, als
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