Ashby House
Shalott?«
»Lorna – haben Sie bereits die Polizei eingeschaltet?«
Ihr eigenes Kreischen hatte zunächst die Fragen der Pressevertreter übertönt. Dann aber drehte sich die Agentin um und blickte in die aufgerissenen, strahlenden Augen des Mobs. Sie kamen näher, sie waren schon viel zu nah. Kalte Angst packte ihr Herz und drückte fest zu. Ihr wurde schwindelig, die Beine wollten nachgeben, haarscharf sauste sie an einer Ohnmacht vorbei, riss sich zusammen, strauchelte, fing sich. Mikrofonständer mit bunten Schaumstoffkappen ragten ihr entgegen wie Speere, einer traf sie am Kinn, ungläubig fuhr sie mit der Hand darüber und spürte kalten Schweiß. Alles in ihrem Innern signalisierte, dass ihr letztes Stündlein geschlagen hatte – ein Gefühl, das mit Xanax hätte gedämpft werden können, doch jetzt war sie Lorna Eckels im Rohzustand.
Wenige Meter über ihr, noch sah es niemand, löste sich ein Wasserspeier. (War er vorher schon dagewesen? Aufnahmen des Hauses vom Vortag sollten diese Frage mit Nein beantworten).
Die Angst, angegriffen, vom Mob zerfetzt und verspeistzu werden, ergriff von ihr Besitz, und Tränen liefen ihr aus den Augen.
Steerpike versuchte weiterhin ergebnislos, die Tür zu öffnen, griff sogar zu einem Stuhl, um eines der großen Fenster zu zerschlagen und die Agentin aus der Belagerung zu erlösen, selbst auf die Gefahr hin, dass die Presse in ihrem Gefolge das Haus stürmen würde.
Der Stuhl knallte gegen die Scheibe und wurde mit gleicher Wucht zurückgeschleudert. Steerpike musste aus dem Weg springen, um einen Zusammenprall zu vermeiden.
»AAAAAACHTUUUUUNG!!«
Nach diesem Aufschrei kehrte eine abrupte, lähmende Stille vor Ashby House ein. Ein Kabelträger starrte mit aufgerissenen Augen nach oben, sein ausgestreckter Arm deutete ebenfalls in diese Richtung.
Lorna sah, wie die Köpfe sich vor ihr hoben, wie Panik in die Gesichtszüge floss, wie die Meute ins Taumeln, Stolpern und Fallen geriet. Gerade als sie den Kopf heben wollte, ging der spitze Schnabel eines moosbedeckten Wasserspeiers auf sie nieder und spaltete ihren blonden Schädel mit der Wucht einer Axt, die sich in eine Kokosnuss senkt. Das Gewicht des tonnenschweren Kolosses brach ihr das Rückgrat an zwei Stellen und zerdrückte ihren Körper auf den Treppen des Portals wie ein lästiges Insekt.
Unter den Schwingen des fledermausartigen Steinmonstrums lugten blonde Haarsträhnen und weißer Pelz hervor und färbten sich in kurzer Zeit rot.
Nach einem Moment des Innehaltens, in dem die Anwesenden fassungslos den auf so absurde Weise entstellten Leichnam betrachteten, schlossen sich, wie als Nachgedanke, mit stakkatoartigem Geklapper sämtliche Fensterläden von Ashby House.
KAPITEL 22
Es dauerte weniger als eine halbe Stunde, bis alles, was in St. Just Beine, Räder oder Stelzen hatte, sich am Ort des Geschehens einfand. Mit den Schaulustigen kamen weitere Reporter in Wagen und Bussen, sodass sich bald entlang der Römischen Straße eine Kolonne gebildet hatte, die bis in den Ort zurückreichte.
Die Polizei, die sich in kleinerer Mannschaft bereits nach weniger als zwanzig Minuten eingefunden hatte, war zunächst damit beschäftigt gewesen, die potenziellen Hausfriedensbrecher vom Grund und Boden des Anwesens zu entfernen, und hatte dann mit den Zeugenverhören begonnen. Als ein Kommissaren-Team sich vergeblich bemüht hatte, Laura Shalott dazu zu bewegen, die Tür zu öffnen, hatte man die Drohung, Verstärkung anzufordern, wahrgemacht. Eine Spezialeinheit der Armee war angerückt, nachdem alle Versuche, die Türen oder Fenster des Hauses gewaltsam von außen zu öffnen, gescheitert waren.
Darüber, weshalb sich Laura Shalott und ihr Butler Steerpike im Haus verschanzten, kursierten diverse Gerüchte, deren gemeinsamer Nenner der folgende war: Nachdem einer oder beide sich des Mordes an Lucille Shalott, Stephen Steed und zuletzt Lorna Eckels schuldig gemacht hatten, verbarrikadiertensie sich jetzt hinter den Mauern von Ashby House, um ihrer verdienten Bestrafung zu entgehen. Dass von mehreren Dutzend Betrachtern nicht ein einziger gesehen hatte, wie einer der Beschuldigten den Wasserspeier gelöst und auf Lorna Eckels hatte stürzen lassen, war schon jetzt auffällig. Dies wurde jedoch genauso wenig hinterfragt wie die Tatsache, dass sich vor den Augen sämtlicher Anwesender die Fenster des Hauses nahezu gleichzeitig geschlossen hatten, was zu bewerkstelligen zweifellos mehr als zwei Personen
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