Ashby House
…«
»Der von meinem Gefühl des Versagens, als Ihre Schwester verschwand, weit in den Schatten gestellt wurde.«
»Gibt es noch etwas, das ich wissen sollte?«
»Das gibt es. Aber ich weiß nicht, ob dieser Zeitpunkt der richtige ist.«
»Bitte, Steerpike. Wir stecken hier gemeinsam drin. Noch verrückter kann es doch nicht werden.«
»Ich fürchte doch. Jeraldine Dvorak – Chris – ist mit uns in Kontakt getreten. Das erste Lebenszeichen seit über sechzig Jahren.«
»Ich verstehe nicht. Sie sagten doch, sie sei verschwunden. Ist sie irgendwo unversehrt aufgetaucht wie dieser Kameramann, der aus Ashby House geflüchtet ist?«
»Nein. Sie ist immer noch hier. Erinnern Sie sich, was nach unserer ersten Expedition in den Dunklen Raum passierte? Die Zahlen auf dem Fernsehschirm? Die Zahlen gerade eben auf Ihrem Mobiltelefon?«
Verwundert zog Laura ihr Handy aus der Tasche.
»Ihre Schwester hat verstanden, was es bedeutete. Ich habe es ihrem Gesicht angesehen.«
»Was meinen Sie?«
»Schauen Sie auf die Zahlentasten. Die Zahlen 386 725. Was für ein Wort ergibt sich daraus?«
Laura betrachtete die Tasten ihres Telefons und begann zu begreifen. »Moment, da gibt es mehrere Möglichkeiten. Jede Zahl hat mindestens drei zugeordnete Buchstaben.« Sie konzentrierte sich auf die Buchstaben, und langsam kristallisierte sich das gesuchte Wort heraus. »Es heißt Dvorak.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Was waren die anderen Zahlen?«
»Nach unserer Expedition in den zweiten Stock stand dort 255 346.«
Jetzt, da ihr Blick geschult war, gelang es ihr in kurzer Zeit, den Code zu entziffern. »Das heißt ›allein‹. Sie hat geschrieben ›Dvorak allein‹.
»Richtig. Und die heutige Botschaft lautete 56 668.«
»Oh, mein Gott.«
»Nein. Es heißt ›Dvorak kommt‹.«
Und wie zur Bestätigung riss die Decke über ihnen, und ein Sessel aus dem Zimmer über ihnen fiel lärmend durch den Spalt hinab auf den Parkettboden, Mowgli, der ihrem Gespräch konzentriert gelauscht hatte, nur knapp verfehlend.
Laura war geistesgegenwärtig einen Schritt zurückgetreten. Mit all dem Wissen, das sie nun hatte, reagierte sie auf die Anschläge des Hauses fast automatisch. »Was ist mit den verschwundenen Kindern?«
»Es hat auf Ashby House nie Kinder gegeben.«
»Aber das Schulzimmer, die Haarsträhne! Es gab hier Versuche, da bin ich mir sicher.«
»Es gab eine Versuchsreihe, das stimmt. Aber wenn an die Öffentlichkeit gerät, was die Ashbys wirklich getan haben, dann gibt es einen Skandal, der nicht nur das Königshaus erschüttern, sondern auch ungeahnte Ausmaße annehmen dürfte.«
»Ist das der Grund, warum Sie hier sind? Um im Auftrag der Regierung einen Skandal zu vertuschen?«
»Nein. Ich bin auf eigene Faust hier. Unsere Abteilung war nicht nur der Regierung, sondern auch dem Königshaus und der anglikanischen Kirche unterstellt. Eine unheilige Allianz …«
»Sie wollten den Skandal allein aufdecken?«
»Es geht hier nicht um Skandale, Miss Shalott. Es geht darum, ein Geheimnis zu lösen. Es geht um Menschenleben.«
»Ich weiß nicht, wie gut ich im Retten von Menschenleben bin. Meine bisherigen Erfahrungen gehen eher in die andere Richtung.« Ihr Blick glitt ins Leere, doch wie von der Hand eines unsichtbaren Marionettenspielers gezogen, strafften sich plötzlich ihre Schultern, und ein feines, entschlossenes Lächeln legte sich um ihren Mund. »Aber eines kann ich Ihnen versichern, Steerpike: Mit dem Auslösen von Skandalen kenne ich mich gut aus, womöglich ist es sogar eine meiner Kardinalsdisziplinen. Und ich bin überzeugt, dass auch Sie ihr Vergnügen daran haben werden.«
Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, ob ihm gefiel, was sie da gesagt hatte. Denn in diesem Moment kamen die Hubschrauber.
Das Eintreffen der Spezialeinheit hatte sich verzögert, da erst die auf der Landstraße geparkten Kraftfahrzeuge hatten entfernt werden müssen. Obwohl es noch keinen Schlachtplan gab, waren die Soldaten in höchster Alarmbereitschaft. Die Truppe hatte sich ihre Meriten bei der Geiselnahme in einer nordirischen Schule verdient. Bis auf einen Physiklehrer und einen Geiselnehmer waren bei der Räumung des Gebäudes keine Todesopfer zu beklagen gewesen. Das Sonderkommando setzte sich aus Scharfschützen und Taktikern zusammen, monatelanger Drill hatte ihnen zu Sachverstand und Kompetenzen verholfen, die auf der Insel ihresgleichen suchten. Es waren idealistische,
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