Ashby House
Königshaus unterstellt, in einem erstaunlich beengten, schlecht tapezierten Büroraum im Buckingham Palace führten, lag auf der Hand. Doch man kann die britische Boulevardpresse nicht für dieses Versäumnis in der Berichterstattung verantwortlich machen, denn so fähig die englische Presse in der plakativen Kommunikation von Indiskretionen ist, so versiert sind die Briten in allen Belangen der Geheimhaltung. Die Presse wusste nichts von dieser Sondereinheit. Die Sondereinheit indes wusste um die Geheimnisse von Ashby House. Doch nicht einmal sie wusste zu diesem Zeitpunkt, wie viele Lebende sich noch in den Mauern des Hauses an der Küste aufhielten. Für Präventivmaßnahmen war es zu spät, also musste man vom Schlimmsten ausgehen: von Überlebenden, die das Geheimnis mit an den Tag brächten, sofern sie sich aus Ashby House befreien konnten. Inder Spezialeinheit glaubte man fest an Diskretion, und so schien ausgeschlossen, was mittlerweile längst eingetreten war: dass sich die brisanten Informationen in einer Harrod’s Einkaufstüte in den Händen einer Gemeindesekretärin befanden, die sich zwischen den Vertretern der Weltpresse bewegte wie eine Flipperkugel – seltsam angezogen und abgestoßen zugleich.
Obwohl keine Gesprächsnotizen von der hochrangig besetzten Plauderrunde existieren – man führte aus Sicherheitsgründen kein Protokoll – erscheinen die Überlegungen, die dort angestellt wurden, naheliegend. Am besten mache man das Haus platt, dem Erdboden gleich, sperre das Areal weiträumig ab und werfe alle Schlüssel fort. Unter anderen Umständen wäre diese häufig erfolgreich erprobte Vorgehensweise zweckdienlich gewesen, doch die Anwesenheit von Lucille Shalott und Stephen Steed setzte neue Vorzeichen.
Die monarchistische Fraktion gab es nicht gern zu, sah es aber insgeheim ein: Die beiden Verschwundenen waren auf ihre Art Royalty. Die Zeiten, in denen man Könige opferte, waren vorbei. Der letzte Versuch war in eine Katastrophe ausgeartet, von der sich die Monarchie nur langsam erholte. Zudem durfte das hervorragende Verhältnis zu den Vereinigten Staaten auf keinen Fall aufs Spiel gesetzt werden. Es bestand Zugzwang, und der einzige Weg, die amerikanischen Protagonisten zu entsorgen, hätte in einer monumentalen Diskreditierung bestanden, die man nicht kurzfristig erzeugen konnte, sondern die von langer Hand und mit großem Vorlauf hätte geplant werden müssen. Einem Team von T V-Autoren wären sicherlich Mittel und Wege eingefallen, die Bewohner von Ashby House zu diffamieren – Lucille Shalott chinesische Geheimagentin, ihre Schwester im Besitz eines tückischen Virus, der die Menschheit mit einem Wimpernschlagausradieren würde, Steerpike ein Drogenbaron, der Macht über die jungen Prinzen gewonnen hat. Doch in den Schaltzentren der Macht war man vielleicht heimtückisch, aber auch entsetzlich fantasielos.
Der Geheimdienst sträubte sich am längsten, doch nach dem kontinuierlichen Aushöhlen durch die Kirchen- und dem ennuyierten Abnicken der Monarchenvertreter beschloss man, bevor man Maßnahmen einleitete, einen Vertreter der CIA zu informieren. Weitere, für Laura und Steerpike lebenswichtige Minuten verstrichen.
»… gebe ich jetzt weiter an Lotte Herbst, die in St. Just unseren berühmt-berüchtigten Society-Reporter Hector Slasher vertritt. Lotte, Sie haben mit Hector gesprochen, der in den vergangenen Tagen in enger Verbindung mit den Bewohnern von Ashby House stand. Was hat er uns zu berichten? Gibt es ein Stimmungsbild? Was genau hat sich in den Tagen ereignet, die die Schwestern Shalott in Cornwall verbracht haben? Hat sich die Katastrophe, von der wir momentan ausgehen, bereits im Vorfeld abgezeichnet?«
»Danke, Electra.« Mit einem energischen Nicken an die Kollegin übernahm Lotte Herbst die Berichterstattung. »Zunächst einmal: Wir haben keine Neuigkeiten über die aktuellen Geschehnisse in Ashby House, aber wir sollten uns der Frage zuwenden, was die Schwestern Shalott überhaupt bewegt hat, ihren Wohnsitz nach Großbritannien zu verlegen. Was zog sie hierher? Weshalb entschieden sie sich, in ein vergleichsweise unkomfortables und nicht behindertengerechtes Haus zu ziehen, wenn ihnen die ganze Welt offen stand?«
Die Kamera wechselte, und Lotte sprach nun im Halbprofil zu ihren Zuschauern.
»Auf viele dieser Fragen haben wir noch keine Antwort.Doch blicken wir einige Monate zurück. Seit ihrem Unfall im August des vergangenen Jahres ist
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