Ashby House
Ursprünge weiter zurücklagen, tiefer verborgen waren und über das es keine Korrespondenzen gab, lediglich ein paar stumme Zeugen, alt wie die Zeit. Hätte nicht so eine Unruhe geherrscht, wäre die Luft nicht erfüllt gewesen vom Murmeln und Zetern der Polizei und Presse, vom Starten von Fahrzeugen, von Reifen auf Kies, beschleunigenden Motoren, wäre nur für einen Moment Ruhe eingekehrt, so hätte man das Brummen gehört – sonor, abgrundtief, als spräche die geschundene Erde selbst.
KAPITEL 23
»Wo ist Slasher? Hat jemand Hector Slasher gesehen?« Lotte Herbst, eine entfernte Cousine Hectors, die in Deutschland aufgewachsen war und seit dem Mauerfall für diverse britische Magazine als Deutschland-Korrespondentin arbeitete und bislang unter dem Namen Rose Marsh (die Erste) aufgetreten ist, lief unruhig umher. Da die Straße vor Ashby House geräumt wurde, hatte man den Übertragungswagen vor dem »Star Inn« aufgebaut. Das war Lottes Idee gewesen – über ein wenig Extra-Publicity würde ihr Cousin sich sicher freuen. Es waren noch zehn Minuten bis zur Aufzeichnung, und von ihrem Auftraggeber fehlte jede Spur.
Eigentlich hatte er sie nur ins Haus eingeschleust, um Insider-Informationen über den Akklimatisierungsprozess der sich in einem mysteriösen Double-Bind befindlichen Schwestern in der neuen britischen Umgebung zu sammeln. Doch als die Ereignisse in Ashby House absurde und geradezu surreale Züge angenommen hatten, hatte sie nach Rücksprache mit ihm das Vorhaben abgebrochen. Sie war erstaunt gewesen, wie schnell er ihren Rückzug akzeptiert hatte – das sah ihm nicht ähnlich. Normalerweise war er unerbittlich, wenn es darum ging, Menschen dazu zu bringen, seine Pläne umzusetzen und seine Spiele zu spielen. Freilichhatte er zum Zeitpunkt ihrer Kündigung bereits selbst die besten Kontakte in das Spukhaus, doch waren diese nicht zu vergleichen mit der Vierundzwanzig-Stunden-Observation, für die er seine talentierte Cousine bezahlte.
Lotte hatte eine Vermutung. Ihr als kalt, machtsüchtig und zielstrebig verschriener Verwandter war weich geworden. Hector Slasher hatte ein Auge auf Laura Shalott geworfen, und sein Blick war an der zarten Rothaarigen hängen geblieben. Dass andere Männer schlicht gestrickt waren, wusste Lotte. Dass ihr Cousin, die Sensations-Koryphäe (der slasher aller slasher) sich plötzlich von seinem Trieb steuern ließ, ging ihr nicht in den teutonisch-preußisch disziplinierten Kopf. Laura Shalott besaß offensichtlich die richtige Oberflächenstruktur für seine Widerhaken, und nun war er, gewollt oder ungewollt, mit ihr verhakt wie die beiden Teile eines Klettverschlusses.
Lotte packte einen vorbeieilenden Kabelträger am Oberarm, und der junge Mann winselte unter dem starken Griff. »Haben Sie Hector Slasher gesehen?«
»Nein, keine Ahnung. Zuletzt in seinem Büro.«
Sie entließ ihn aus dem Klammergriff und schnaubte.
Im »Star Inn« herrschte aufgeregte Betriebsamkeit. Sie ließ ihre Augen über die aufgescheuchte Menschenmenge schweifen, durchsuchte ergebnislos die Küche und schaute aus dem Fenster. Hectors Wagen stand noch immer da, wo sie ihn heute Morgen gesehen hatte. Wo war er bloß, verdammt? Sie ging zu seinem Schreibtisch und sah einen Stapel Karteikarten. Seine Notizen für den geplanten Insider-Beitrag. Auf dem obersten Zettel klebte eine neongelbe Haftnotiz in deutscher Sprache:
»Lotte – wenn ich es nicht shaffe (sic), mach du es.«
Das einzige Fenster zur Außenwelt, das nicht verschlossen war, befand sich in Lucilles Schlafzimmer und sendete Bilder der Belagerung. Die gesamte britische Fernsehwelt strahlte Sondersendungen über die Schwestern Shalott aus. Um nicht immer wieder dieselben Aufnahmen eines hermetisch abgeriegelten Hauses und seiner Belagerung erst durch die Presse, dann durch das Militär präsentieren zu müssen, hatten sich britische Journalisten auf den Weg in die Welt gemacht, um Stimmungsbilder einzufangen. In Ermangelung kompetenter Zeugen wurden Filmhistoriker, Fan-Clubs, Männer und Frauen auf der Straße zu den Ereignissen befragt. Diese Beiträge folgten dem weltweit gültigen boulevardjournalistischen Gesetz: »Hast du keine Information aus erster Hand, dann frage die zweite, dritte und vierte, was sie davon hält.«
Dass die Fragen und Antworten nicht halb so informativ und interessant ausfielen wie die Gespräche, die eine kleine Sondereinheit der Regierung, der anglikanischen Kirche und dem
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