Ashby House
Temperatur war merklich gefallen, was nicht nur darauf zurückzuführen war, dass Steerpike das erste Mal seit seiner Ankunft das Heizen der Kamine vernachlässigt hatte.
Die beiden hatten sich Jacken übergeworfen, und wie bei ihrer Ankunft in Ashby House sah Laura Shalott aus, als entstamme sie einem früheren Jahrhundert als dem frisch angebrochenen einundzwanzigsten.
Der Fernsehschirm tauchte die Gesichter der beiden in ein graublaues Licht. Steerpike, dem Verhöre alles andere als fremd waren, scheute sich, Laura anzusprechen, die, während sie dem Bericht der falschen Rose Marsh lauschte, immer weiter in sich zusammensackte. Erst senkten sich ihre Schultern, dann beugte sich ihr Nacken, bis ihr Kinn schließlich fast auf ihrem Brustbein zu liegen kam. Wie um sie vordem Fallen zu bewahren, schob sich der Hund an Lauras Beine.
Und dann sprachen beide gleichzeitig. »Immerhin wissen wir jetzt, dass die falsche Rose Marsh nicht im Turmzimmer verschwunden ist«, sagte Steerpike, während Laura ihrem Brustbein anvertraute: »Immerhin hat es jetzt endlich jemand ausgesprochen.«
»Jetzt dürfen wir uns etwas wünschen«, sagte sie und schenkte Steerpike ein erschöpftes Lächeln, die Augen immer noch schamhaft gesenkt, doch mit etwas strafferen Schultern als zuvor.
»Ist es so gewesen, wie sie sagt?«
Laura schüttelte den Kopf. »Es war keine Absicht, aber das scheint niemanden zu interessieren.«
»Es interessiert
mich
.« Um seine Bemerkung zu bekräftigen, legte Steerpike seine rechte Hand auf ihren Unterarm, doch sie zuckte zurück, als habe sie sich verbrannt.
»Entschuldigung.«
»Entschuldigung.«
Entgegen der Umstände mussten beide aufgrund der erneuten Gleichzeitigkeit kurz auflachen, bevor sich die düstere Stimmung wieder über sie legte.
»Alle haben geglaubt, dass ich es mit Absicht getan habe.«
»Aber warum hat man Ihnen die Schuld gegeben?«
»Weil ich meistens schuld
bin.
Ich weiß auch nicht. Vielleicht bin ich verantwortlich. Ich hatte das Zeug in meinen Orangensaft getan, der im Kühlschrank stand. Und vielleicht … Irgendetwas in mir wusste, dass sie sich ihren Morgendrink damit mischt. Auch wenn mir nicht bewusst war, dass es passieren könnte – ich habe es darauf ankommen lassen. Ich weiß noch, dass ich den Wecker ausgestellt habe, als er klingelte. Und als ich mich noch einmal umgedreht habe,um eine halbe Stunde weiterzuschlafen, hat sie ihren Tom Collins getrunken. Und – zack – ist sie über Bord.«
Laura selbst hatte es nicht gesehen, aber in ihrer Vorstellung war es ein Bild von perverser Poesie: Lucille in einem weißen Morgenmantel, die langen blonden Haare offen und von der Meeresbrise bewegt, in der rechten Hand das Glas, in der linken eine heimliche Zigarette, am Bug der Yacht, wie Königin Christine in eine ungewisse Zukunft blickend. Anders als Christine hat sie die Augen mit einer Sonnenbrille geschützt vor der Intensität des gleißenden Morgenlichts, das sich in den tiefblauen Wellen bricht und sie anfunkelt, lockt, bis die Droge ihre Wirkung entfaltet und das Meer sie ruft – in ihren Ohren deutlich der verlockend klare Ruf der Sirenen, »herab, herab« –, bis sie auf der Oberfläche aufschlägt, nach einem einfachen Salto mit dem Rücken zuerst, die Kälte sie umarmt und ein großer weißer Vogel, die Seele eines verstorbenen Matrosen, am Bug entlang über die sich über ihrem sinkenden Körper noch kräuselnde Meeresoberfläche fliegt, wie um einen Vorhang zu schließen.
»Ich glaube langsam selbst, dass es genau das war, was ich wollte. Vielleicht.«
»Aber warum hat Lucille Sie dann nie zur Verantwortung gezogen?«
»Wir wirken nicht gerade wie liebende Schwestern. Aber das liegt nur daran, dass wir ein Problem haben, es zu zeigen.«
»Ich verstehe es trotzdem nicht.« Er hob an, weiterzusprechen, doch sie kam ihm zuvor.
»Steerpike, wir sind so. Wenn wir uns wehtun, dann spüren wir uns wenigstens. Kennen Sie das etwa nicht?«
Und wirklich, sie liebten sich, auch wenn es Steerpike schwerfiel, dies anlässlich der Geschehnisse zu begreifen.Vielleicht hätte er verstanden, wie groß die Liebe war, wenn er um den größten Liebesdienst, den Laura Lucille erwies, gewusst hätte. Das Wahren eines Geheimnisses selbst jetzt, in einer Stunde der Wahrheit und über den anzunehmenden Tod der Schwester hinaus.
»Tief in ihrem Innern liebt sie mich, da bin ich mir sicher. An irgendetwas muss man schließlich glauben, oder?«
KAPITEL
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