Ashby House
Lucille Shalott in eine Wolke aus Geheimnissen gekleidet. Die berühmteste Fotografin neben Annie Leibovitz, eine Society-Persönlichkeit, die nicht nur hinter der Kamera eine gute Figur machte, hat sich erfolgreich und beinahe unauffindbar zurückgezogen. Die dramatischen Ereignisse hier in St. Just, Cornwall, Großbritannien deuten darauf hin, dass sie definitiv und endgültig verschwunden ist. Möglicherweise ist Lucille Shalott nicht mehr am Leben. Wie konnte es dazu kommen, dass eine der berühmtesten Persönlichkeiten unserer Zeit so entschieden den Rückzug antrat, der ihr aller Wahrscheinlichkeit nach zum Verhängnis wurde?«
Archivbilder zeigten einen Krankenwagen, der mit kreischenden Reifen am Wilshire Memorial Hospital vorfuhr, zwei Krankenpfleger, die sich bemühten, eine mit Wolldecken bedeckte Person auf einer Tragbahre durch eine Traube aufdringlicher Paparazzi in die Notaufnahme des Krankenhauses zu transportieren. Daraufhin wurden Bilder einer Pressekonferenz eingeblendet. Lorna Eckels, angespannt und blass unter ihrem perfekten Make-up, stand den Vertretern der Weltpresse Rede und Antwort. »Lucille Shalotts Zustand ist ernst, aber stabil. Allem Anschein nach ist sie bei einem Ausflug mit ihrer Yacht verunglückt. Sie hat mehrere Minuten unter Wasser verbracht, konnte jedoch von einem Bootsoffizier wiederbelebt werden. Wir können zu diesem Zeitpunkt keinerlei Auskünfte darüber erteilen, ob Lucille vollständig genesen wird, und möchten uns auf diesem Wege für die weltweite Anteilnahme bedanken.« Energisch packte die Agentin ihre Papiere zusammen, während die Presse im Saal lautstark ihr Fragenbombardement begann.
»Was zum Zeitpunkt dieser Pressekonferenz noch niemandwusste«, Lotte Herbst hielt ein Plastikfläschchen von der Größe eines kleinen Joghurtbechers demonstrativ in die Kamera, »ist, dass Lucille Shalott unter dem Einfluss einer Droge stand, die Gammahydroxybuttersäure heißt, besser bekannt unter ihrem Straßennamen ›GHB‹ oder auch ›Liquid Ecstasy‹. Die Droge hat eine stimmungsaufhellende, ja geradezu euphorisierende Wirkung, doch in Kombination mit Alkohol kann sie zu einer tödlichen Waffe werden. Bewusstlosigkeit, Lähmung der Atemwege, Blackouts sind die ersten Symptome bei einer Intoxikation. Bleibt eine sofortige Behandlung aus, führt die gefährliche Mischung in nicht seltenen Fällen zum Tod.«
Lotte signalisierte mit ihren gerunzelten Augenbrauen eindringlich »Macht das nicht zu Hause«, bevor sie in ihrem Bericht fortfuhr. »Kaum war die Information an die Öffentlichkeit gedrungen, meldeten sich unabhängig voneinander zwei Drogendealer anonym bei einem amerikanischen Boulevardmagazin.«
An dieser Stelle blendete die Regie einen kurzen Clip von Laura ein, wie sie in Tränen aufgelöst (aber ohne Mascaraspuren) mit einem opulenten Strauß aus Tuberosen, Gardenien und Levkoyen in den Armen das Wilshire Memorial betritt. Sie trägt ein knapp sitzendes schwarzes Satinkostüm mit Chiffoneinsatz, das ihre helle Haut noch weißer erscheinen lässt und das Filmkenner sofort als Marilyn Monroes Kostüm in der Schlussszene des Films »Let’s make love« identifizieren. Der üppige Blumenstrauß betont ihre zierliche Figur. Ihr rot schimmerndes Haar ist mit achtlos erscheinender Präzision zu einem Grace-Kelly-Knoten aufgesteckt, aus dem sich einige Strähnen lösen.
»Schockiert darüber, dass Lucille Shalott den von ihnen in Umlauf gebrachten Drogen zum Opfer gefallen sein könnte,beschuldigen die entsetzten Gesetzlosen Laura Shalott, die zu ihrem Kundenstamm zählt, die eigene Schwester unter Drogen gesetzt und auf offenem Meer dem Tod ausgeliefert zu haben. Da Lucille Shalott keine Anklage erhebt und die Beschuldigung ihrer Schwester nicht kommentiert, gibt es nie ein öffentliches Verfahren gegen die rothaarige Schönheit. Fortan lebt sie jedoch unter dem Verdacht, für den sogenannten ›Unfall‹ ihre Schwester verantwortlich zu sein.«
Die schwarzverhüllte Kuppel von Ashby House starrte wie eine glanzlose Pupille in den Himmel, den Trubel, der sich zu Lande und in der Luft abspielte, ignorierend. Im Inneren setzten trübe Glühbirnen, Sterntrabanten gleich, spärliche Lichtlandschaften in das Universum des Hauses. Ein beharrlicher Wind pfiff durch die Korridore und brachte marode Gardinen zum Rauschen, sodass es klang, als quälten sich alte Frauen mit müden Beinen in Reifröcken über Taffeta-Unterkleidern durch die Räume, Säle und Gänge. Die
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