Ashes, Band 02: Tödliche Schatten (German Edition)
einen Schlag direkt unter das Auge und wartete dann, bis die Wachen dem Jungen ein breites Lederband um die Stirn gebunden hatten.
»Gut, dann ein neuer Versuch.« Mit dem Skalpell schnitt Finn einen Streifen von Mathers Zunge ab. Doch erst nach drei weiteren Versuchen und ebenso vielen Schlägen schnappte der Veränderte nicht mehr nach den Fingern des alten Mannes, und Finn ließ das blutige Fleisch in Daveys Mund fallen. Peter beobachtete, wie der Junge den Happen mit den Zähnen festhielt und ihn dann beim Kauen von einer Backe zur anderen schob.
»Lass es dir schmecken.« Finn klang wie ein gütiger alter Opa, der seinem Lieblingsenkel heimlich eine Schokopraline zusteckt und dabei weiß, dass sich das Kind damit den Appetit verderben wird. Ohne sich umzudrehen, fügte er hinzu: »Es ist wirklich hochinteressant. Ich habe jetzt eine ganze Reihe von ihnen studiert. Hast du bemerkt, dass die … wie nennt ihr es? Die Veränderung? Also, meinen Beobachtungen nach ist es damit noch nicht vorbei, mein Junge, noch lange nicht.«
In Peters Brust krampfte sich etwas zusammen. Die Veränderung war noch nicht vorbei? Rein verstandesmäßig hatte er zwar immer gewusst, dass diese Möglichkeit bestand, doch niemand in Rule hatte das je bei einem Verschonten erlebt.
Keiner ist sicher? Peter schauderte. Nein, er irrt sich. Ich bin ein Verschonter. Das passiert mir nicht, und Chris auch nicht, und niemandem von den anderen Verschonten. Es ist zu lange her – Monate! Das kann doch nicht sein.
»Weißt du, was ich mich frage?« Finns Miene nahm einen leicht verträumten Ausdruck an. »Ich wüsste gern, wie es ist.«
»Was?«, brachte Peter mühsam heraus und befeuchtete seine Lippen. »Sie meinen … sich zu verändern?«
»Ja, Peter. Die Eigenwahrnehmung ist Segen und Fluch zugleich. Man merkt, wenn man eine Erkältung bekommt. Es gibt erste Anzeichen und Symptome. Aber wie ist das bei der Veränderung? Spürt man sie? Weiß man überhaupt davon? Es muss wohl so sein. Ein Sterbender hat einen sechsten Sinn dafür, wann es mit ihm zu Ende geht. Selbst die Verrückten wissen, wann ihnen die Wirklichkeit entgleitet. Sie mögen sich selbst belügen, klar … aber im Grunde wissen sie es.«
»Ich … i-i-ich … « Er zitterte. Seine Zähne wollten nicht aufhören zu klappern. »M- mir egal. I-i-ich w-will es n-n-nicht w-w-issen. I-i-ist egal.«
»Das ist es nicht, und es sollte auch dir nicht egal sein. Um deinen Feind zu verstehen – und ihn mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen –, musst du in seinen Kopf kriechen und mit seinen Augen sehen. Wobei man bei den Chuckies nicht sagen kann: ›Kennst du einen, kennst du alle.‹ O nein. Nehmen wir beispielsweise einen wie unseren Davey hier, der sich bereits total verändert hat.« Finn machte eine Handbewegung zu dem Jungen hin. »Ein frischer Chucky ist ein Tier. Manche bleiben wild. Andere entwickeln sich weiter, und manche scheinen schlauer zu sein als andere. Es ist eine Glockenkurve in ständiger Bewegung. Junge, Junge. Ich wette, dass in dieser Horde von Chuckies sogar ein kleiner Einstein ist. Verdammt, wie gern würde ich einen normalen Jugendlichen fangen, lang bevor er wild wird, und dann messen, wie schnell er wieder Grundfertigkeiten erwirbt. Besonders interessieren mich die, die sich jetzt verändern. Bei ihnen ist der Verlauf doch bestimmt ganz anders als bei der ersten Welle, meinst du nicht auch? Und wie kommunizieren sie? Wir wissen, dass manche zusammenarbeiten, sich zu Banden, Rudeln, Meuten, Stämmen oder was auch immer zusammengeschlossen haben, während andere Einzelgänger sind. Handelt es sich also um Telepathie? Um Frequenzen außerhalb des normalen Hörbereichs? Gerüche? Körpersprache? Und nur um eines davon oder um eine bestimmte Kombination?«
»Wovon reden Sie?«, flüsterte Peter. Zum ersten Mal, seit sich die Welt verdüstert hatte, war er im tiefsten Innersten verängstigt. »Wollen Sie mitansehen, wie ich mich verändere? Das wird nicht passieren. Es ist zu lange her. Wollen Sie etwas über Rule erfahren? Auch wenn Sie mich foltern, werde ich Ihnen nichts sagen.« Als Finn nicht antwortete, fragte Peter lauter: »Um Himmels willen, was wollen Sie?«
»Ein schlaues Kerlchen wie du kriegt das doch bestimmt selbst heraus.« Finn ging in die Hocke und zog mit dem Daumen Mathers Unterlid herunter, dann glitt das Skalpell in das rosarote Gewebe, das Mathers rechten Augapfel mit der Augenhöhle verband. Er schabte mit der Klinge an einem
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