Ashes Bd. 1 Brennendes Herz
passiert.«
Die Art, wie er und all die anderen von Verschonten und Veränderten sprach, war ihr unangenehm. Auch die sogenannten Erwählten – was hatte all das zu bedeuten? Dieser ganze Ort besaß für ihren Geschmack einen viel zu religiösen Touch, allein schon wegen dieses allmächtigen Reverend und seines Rats der Fünf. Vielleicht gehörten alle diese Leute einer Sekte an – man kannte ja die Geschichten von dem Massaker von Jonestown oder der Belagerung von Waco. Dazu noch Jess, die ständig Bibelsprüche von sich gab. Zudem schien hier alles so gut organisiert, als hätte es schon vorher klare Regeln gegeben. »Muss ich deshalb mit diesem Reverend und dem Rat sprechen? Damit sie überlegen können, was sie mit mir anstellen?«
»Sozusagen. Der Reverend ist ziemlich … äh … zupackend , und der Rat hat die Organisation in der Hand. Er entscheidet beispielweise je nach Bedarf, wer wo eingesetzt wird.«
»Sind diese Leute gewählt worden?«
Kincaid schüttelte den Kopf. »Die Fünf Familien hatten in Rule von Anfang an das Sagen. Die Familie des Reverend – die Yeagers – ist die bedeutendste. Sie sind am reichsten und waren die erste der Fünf Familien, die sich vor über hundertfünfzig Jahren in Rule niedergelassen hat. Ihnen gehörte das Bergwerk, sie haben die Gemeinde aufgebaut, die Kirche gegründet. Der Bruder des Reverend hat nach dem Tod des Vaters das Bergwerk übernommen, bis die Vorkommen vor zwanzig Jahren weitgehend erschöpft waren. Aber hier leben Männer, die ihr Leben lang im Bergwerk gearbeitet haben. Loyalität und Familiensinn bewähren sich in Zeiten wie diesen. Die Yeagers haben sich schon immer gekümmert, und die Leute verlassen sich darauf, dass sie es jetzt auch tun.«
»Also hören alle auf Pastor Yeager?«
»Reverend. Ja. Sagen wir, er ist unsere höchste Instanz.«
»Was passiert, wenn der übrige Rat anderer Meinung ist als er?«
»Ist noch nie vorgekommen.«
Alle waren immer einer Meinung, alle dachten so wie einer? Das hörte sich nicht gut an. Sie konnten sich doch nicht immer einig sein? »Und was ist, wenn ich gehen möchte? Ellie ist da draußen, und Tom …«
»Soviel ich weiß, hast du keine Ahnung, wo sie sein könnten, oder?«
»Nein, aber das heißt nicht, dass ich sie nicht suchen sollte.«
»Hast du denn eine zündende Idee, wo du anfangen könntest?«
Sie verkniff sich eine bissige Antwort. »Nein.«
»Bis es so weit ist, versuchst du dann wohl am besten, dich hier einzuleben.«
»Aber Rule ist nicht mein zu Hause«, entgegnete sie. Lenas Worte gingen ihr nicht aus dem Sinn, und sie hatte allmählich ein richtig mulmiges Gefühl. »Ihr seid nicht meine Familie.«
»Mal sehen, was sich da machen lässt«, meinte er.
Der Kirchplatz machte nicht viel her. An der nordwestlichen Ecke stand eine große weiße Kirche mit Pfarrhaus. Im Westen sah Alex ein weitläufiges zweistöckiges Gemeindehaus mit hohen Bogenfenstern und einem Uhrenturm aus gewöhnlichem rotbraunem Sandstein, im Süden ein altmodisches Billigkaufhaus, eine Bäckerei neben einem kleinen Lebensmittelgeschäft, das sich Murphy’s nannte, Martha’s Diner – »Frühstück rund um die Uhr« – und am Ende des Blocks eine Art Lesecafé mit christlichem Buchladen namens Higher Ground. An der Nordseite des Platzes, direkt gegenüber vom Buchladen, lag eine Kneipe mit geschlossenen Fensterläden. Die altehrwürdigen Werbetafeln für »Blatz« und »Ballantine Beer« ließen vermuten, dass sie zuletzt in der Steinzeit geöffnet gehabt haben musste. Wachposten patrouillierten auf dem Gehsteig vor dem Lebensmittelladen, dem Kaufhaus und dem Café. Immerhin hatte Martha’s Diner geöffnet, denn ein feiner Duft nach frisch gebrühtem Kaffee, Ahornsirup und Pfannkuchen wehte ihr entgegen. Männer in Tarnanzügen hockten an Tischen hinter einem beschlagenen Schaufenster. Als ihre Hunde Alex bemerkten, standen sie auf.
Das wird eindeutig immer schlimmer. Jetzt drückten sich noch mehr Hunde am Fenster des Lokals die Schnauzen platt, und Alex fiel auf, dass der Geruch der Tiere voller und üppiger wurde, sobald sie Alex entdeckten. Mina hat sich nicht halb so schlimm aufgeführt, und das ist erst … eine Woche her, oder zehn Tage?
Sie spürte, dass Kincaid sie musterte. Zwar kannte sie ihn nicht, aber von ihm ging nichts Böses aus. Er roch wie ein bequemer Ledermantel, etwas, was ihr Vater hätte tragen können, mit einem blumigen Anflug. Puder? »Wissen Sie, warum die das tun?«, fragte
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