Ashes Bd. 1 Brennendes Herz
Selbstmitleid. Es ist eine Prüfung Gottes.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Alex, die sich unheimlich leidtat.
»Was glaubst du wohl?« Jess zählte es an ihren Fingern ab. »Mal sehen … du hast den Angriff überlebt. Du hast dich nicht verändert. Du hast ein Kind gerettet. Du wärst fast von wilden Hunden gefressen worden. Du wärst fast von den Veränderten gefressen und beinahe gelyncht worden – ach ja, und die Hunde mögen dich. Hab ich etwas ausgelassen?«
Ja, ich hab ausgerechnet den Menschen im Stich gelassen, der lieber gestorben wäre, als mir wehzutun. »Ich verstehe nicht, warum das Prüfungen sein sollen. Es ist einfach passiert.«
»Dann bist du blind, und es ist höchste Zeit, dass du die Augen aufmachst. Du bist nicht die Einzige, die Probleme hat. Jeder Einzelne hier in Rule hat Menschen verloren, die ihm teuer waren, manche sogar sehr viele. Meine Töchter sind vor meinen Augen tot umgefallen, aber ich danke Gott noch immer dafür, dass mein Enkel verschont wurde. Unser Leben liegt in Scherben, aber wir laufen nicht mit langen Gesichtern herum und suhlen uns in Selbstmitleid. Jeder arbeitet, und das gilt ab sofort auch für dich, junge Dame. Also schau jetzt, dass du den Hintern hochkriegst, bevor ich dich aus dem Bett zerre.«
»Du bist nicht meine Mutter«, sagte Alex und dachte dabei: Meine Güte, jetzt höre ich mich schon an wie Ellie.
»Auch dafür solltest du dem Herrn danken«, gab Jess zurück. »Ich will dich nicht schikanieren, Alex, aber weder du noch ich noch sonst jemand hat Zeit zu jammern. Unten ist ein Welpe, der durchdreht, weil er dich sehen will, und es gibt viel zu tun.«
»Ich muss nicht auf dich hören.«
»Solange du unter meinem Dach wohnst, schon.« Als Alex nicht antwortete, setzte Jess sich seufzend aufs Bett. »Denkst du, mir macht das Spaß? Mir wäre es lieber, wenn wir uns vertragen.«
Wahrscheinlich sagt sie die Wahrheit, dachte Alex, aber Jess war schwer zu durchschauen. So direkt und ehrlich sie erschien, ihr Geruch war … tja, Alex stellte sich vor, dass Weiß so roch. Kein Nebel, nichts Schattenhaftes wie bei Chris. Jess’ Geruch gab nichts preis. »Ein erster Schritt wäre, dass du mich in Ruhe lässt.«
»Das kann ich nicht. Ich weiß, es klingt abgedroschen, aber wenn Tom dir wirklich so viel bedeutet: So würde er dich nicht sehen wollen. Es hört sich an, als wäre er ein hochanständiger, mutiger junger Mann, und er hat in dir etwas gesehen, was sich zu retten lohnt – und nicht nur einmal, sondern immer wieder. Natürlich kannst du dir einreden, es sei ein Reflex gewesen, dass er es für jeden getan hätte und gar keine andere Wahl hatte, aber vergiss eines nicht: Am Ende, meine Liebe, hat er sich für dich entschieden, und nicht für seinen Freund. Er hat sich für dich entschieden.« Jess strich Alex eine Strähne aus der Stirn. »Im Brief an die Hebräer heißt es: ›Durch den Glauben redet er noch, wiewohl er gestorben ist.‹«
»Was bedeutet das?«, fragte Alex trübselig.
»Es heißt, du musst Toms Opfer ehren. Du musst ihn ehren. Er würde wollen, dass du lebst.«
»Das Leben ist eine Strafe.« Tränen strömten ihr über die Wangen. »Alle, die mir etwas bedeutet haben, sind tot.«
»Solange du lebst, gibt es Hoffnung«, erwiderte Jess. »Die Hoffnung sagt, dass ich noch einen Tag leben werde, und auch das ist ein Segen.«
»Woraus ist das?«
»Aus dem Buch Jess. Jetzt steh auf. Sorg dafür, dass Tom nicht umsonst gelitten hat.«
In der Küche hantierte Jess mit einer Bratpfanne, während Alex’ Hausgenossen – eine fröhliche, rundliche Fünfzehnjährige namens Tori und Lena, eine arrogant wirkende Brünette in Alex’ Alter – spülten und abtrockneten. Ein ziemlich alter Mann mit dem wettergegerbten, zerfurchten Gesicht eines Cowboys lümmelte an einem schlichten weißen Küchentisch. Kauend blickte er von seinem Kaffee und einem angebissenen Muffin auf und sagte: »Guten Morgen, meine Liebe. Wie haben wir geschlafen?«
»Danke, gut, Doc«, antwortete Alex. Kincaid hatte ihr am ersten Tag erklärt, sie solle ihn mit Matt oder mit Doc anreden, und Alex brachte es einfach nicht über sich, einen Mann, der auf die Siebzig zuging, beim Vornamen zu nennen. Nach dem eiskalten Schlafzimmer war die warme Küche – mit dem altmodischen gusseisernen Herd und dem betörenden Aroma von Zimt, Muskat und Äpfeln – die reinste Oase. Alex lief das Wasser im Mund zusammen, und ihr Magen knurrte.
Da ging die Tür zum
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