Ashes Bd. 1 Brennendes Herz
das könnt ihr nicht machen!«, heulte der Mann. Er war uralt, ziemlich verhutzelt, die Arme dürr wie Zweige, und nur eine Schnur um seine Taille verhinderte, dass seine Hose rutschte. Mit einer jähen Kraftanstrengung befreite er sich und huschte zu einer Bürotür. Nun zerrten die Hunde an der Leine, kläfften, stellten sich auf die Hinterbeine. Der Alte riss an der Klinke, aber die Tür war abgeschlossen. Auf seinem runzligen Gesicht war die pure Verzweiflung zu erkennen, und als die zwei Wachposten näher kamen, fing er an zu weinen. Er kniete sich hin, die knorrigen Finger umfassten immer noch die unnachgiebige Metallklinke.
»Ihr könnt mich nicht wieder da raus schicken! Ich habe niemanden, ich weiß nicht, wohin!«, flehte er, als die Wachen ihn wegzuzerren versuchten. Der Alte klammerte sich mit der erbitterten Hartnäckigkeit eines Blutegels fest, die Angst verlieh ihm eine ungezügelte Kraft, und seine verbrauchten Armmuskeln spannten sich wie Gummistränge. »Ich kann noch arbeiten, ich bin noch für etwas gut, bitte nicht!«
Begleitet von aufgeregtem Hundegebell eilte ihnen ein dritter Wachposten zu Hilfe. Und zu dritt gelang es ihnen, den eisernen Griff des Alten zu lösen, dann trugen sie den schreienden und um sich schlagenden Greis den langen Korridor entlang, bis sie endlich außer Sicht waren.
»Mein Gott«, stöhnte der Mann, der den anderen gern gezeigt hätte, was man mit solchen wie Alex machte. Er warf ihr einen feindseligen Blick zu. An Kincaid gewandt schimpfte er: »Ihr solltet euch schämen. Er ist einer von uns, und ihr rettet so eine . Was zum Teufel ist so Besonderes an ihr?«
»Zum Beispiel«, erwiderte Kincaid freundlich, »dass sie weiß, wann man besser den Mund hält.«
Am Ende des T-förmigen Korridors hielten sie sich rechts. Hier blickten die Fenster nach Süden, und es war viel heller. Wieder begegneten sie Wachposten – allmählich gewöhnte sich Alex an den Anblick bewaffneter alter Männer in Tarnanzügen. Dann führte Kincaid sie zu einer verschlossenen Doppeltür zur Rechten. Auf einer Tafel links der Türen stand GERICHTSSAAL.
»Wir warten hier ein paar Minuten.« Kincaid sank mit einem leisen Seufzer auf einen Stuhl.
Sie blieb stehen. Ihr Mund war trocken, ihre Handflächen feucht. »Warum ist es so wichtig, dass ich mit diesem Rat und dem Reverend spreche? Ich meine, die können doch nicht über alle Leute entscheiden. Das sind zu viele.«
»Rund fünfhundert. Und sie sind nicht für jeden zuständig. Das übernehmen die Wächter, Leute, die dafür den Schlüssel erhalten haben.«
»Schlüssel? Um Türen aufzusperren?«
»Keine Türen in dem Sinn. Das bezieht sich auf die Bibel, Matthäus: Und ich will dir des Himmelreichs Schlüssel geben. Alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel los sein. Das Prinzip ist das gleiche wie bei der mormonischen Priesterschaft, auch wenn wir keine Mormonen sind. Es läuft darauf hinaus, dass der Rat einzelnen Männern die Befugnis erteilt, in bestimmten Bereichen Entscheidungen zu treffen: über die Farmen, die Waffenlager, die Vorräte, sanitäre Einrichtungen und so. Beispielsweise ist Peter, der zu den Ernsts, einer der Fünf Familien, gehört, für die Bürgerwehr zuständig. Er entscheidet, welche Missionen durchgeführt werden, wie viele Leute dafür nötig sind und so weiter. Er spricht auch mit Neuankömmlingen und stellt fest, ob sie sich für den Wachdienst eignen oder kampftauglich sind.«
»Also warten all die Leute auf dem Flur darauf, mit einem Wächter zu sprechen?«
»Oder mit einem ihrer Stellvertreter, mit Leuten wie Chris zum Beispiel.«
Sie runzelte die Stirn. »Aber Chris ist doch der Enkel des Reverend, oder? Warum hat er dann keinen Schlüssel und ist kein Wächter?«
Kincaid spitzte die Lippen. »Nun ja«, begann er vorsichtig, »zum einen ist Chris nicht in Rule geboren und aufgewachsen. Seiner Ahnenreihe nach gehört er zwar mehr oder weniger dazu, aber seine Eltern waren nicht … äh … aus dem Ort. Sie sind weggegangen, und ihre Geschichte ist ein bisschen … undurchsichtig. Peter hingegen ist in Rule groß geworden, er ist älter, hat mehr Erfahrung in diesen Angelegenheiten. Es gibt noch andere Gründe, aber diese erklären eigentlich schon alles.«
In Rule aufgewachsen? Ahnenreihe? In Rule herrschte offenbar ein noch strengeres Regiment, als sie gedacht hatte. »Und wer wird dann dem Rat
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