Ashes Bd. 1 Brennendes Herz
vorgestellt?«
»Die Verschonten, Jugendliche wie du, und Zweifelsfälle, Leute, die hier gut herpassen könnten, bei denen die Wächter sich aber nicht ganz sicher sind. Also schicken sie sie zum Rat, der ein endgültiges Urteil fällt. Der Rat spricht auch mit Leuten, die vielleicht … Anpassungsschwierigkeiten haben.«
Da fiel ihr Jess’ Drohung ein. »Hat das Jess gemeint, als sie gesagt hat, sie würde den Reverend bitten, die Sache nochmals zu behandeln?«
Kincaid nickte. »Der Reverend trifft immer die letzte Entscheidung, wenn es um den Bann geht.«
»Bann?« Ihr lief es kalt den Rücken runter. »Also Verbannung?«
»So in etwa. Aber hör mal, das soll im Moment nicht deine Sorge sein. Konzentrier dich lieber darauf, bei dem Gespräch dein Bestes zu geben, und lüge bloß nicht. Der Reverend merkt, wenn man lügt.«
Aha, das war interessant. »Und wenn man lügt, wird man … verbannt?«
»Erst mal nicht. Aber manche Jugendlichen können sich nicht anpassen. Sie leben sich nicht ein.«
»Wie Lena?«
»Sie ist ein bisschen schwierig, das steht fest.«
»Warum lasst ihr sie dann nicht gehen?«
»Wir sind … äh … wir versuchen, die Verschonten hier zu behalten. Das ist insgesamt sicherer.«
»Aber sollte das nicht Lenas Entscheidung sein?« Oder meine? »Wie steht es mit der Willensfreiheit?«
»Willensfreiheit ist schön und gut«, meinte Kincaid. »Aber schau, wohin sie bei Adam geführt hat.«
Die Tür zum Gerichtssaal ging auf, und ein tattriger alter Mann, der aussah wie hundertneunzig, streckte den Kopf heraus. »Der Rev empfängt euch jetzt«, sagte er mit schmalziger Stimme.
»Wo ich’s mir grade gemütlich gemacht habe«, murmelte Kincaid und verzog das Gesicht, als seine Knie beim Aufstehen knackten. »Da würde ich mir gern mal neue einbauen lassen.«
»Erzähl mir nichts von deinen kaputten Knien«, meinte der Alte. Er malmte mit den Kiefern, und Alex hörte eine Prothese klappern. »Mich würde eher interessieren, ob wir nicht bald jemanden kriegen, der meine verdammten Zähne richten kann.«
48
D er Saal hätte prima in eine TV-Gerichtsserie gepasst, holzvertäfelt, klein, mit drei Sitzreihen für Zuschauer, einem Geländer mit Schwingtür als Absperrung und beidseits der Schwingtür je ein rechteckiger Tisch. An der rechten Wand stand eine Geschworenenbank. Die Richterbank befand sich in der Mitte, und dahinter saßen fünf Männer, alle in schwarzen Roben und alle mit sturen Gesichtern voller Runzeln. Zwei von ihnen, die außen saßen wie symmetrische Bücherstützen, wirkten so gebrechlich, als könnte schon eine kräftige Brise sie umhauen. Wie alt die anderen drei waren, konnte Alex nicht schätzen. Alt war … alt.
Wer Yeager war, wusste sie allerdings sofort. Kincaid hatte gesagt, dass er immer in der Mitte saß, und nun musterte sie ihn. Er war kahlköpfig, seine Nase glich einer gequetschten Tomate, und wenn er sich bewegte, wackelten an seinem Hals Hautfalten wie die Kehllappen eines Truthahns. Auch seine lebhaften dunklen Augen erinnerten an einen Vogel, und sie musterten Alex nun mit dem kalten berechnenden Blick einer Krähe, die erwägt, ob ein überfahrenes Tier am Straßenrand interessant sein könnte.
»So, du bist also Alexandra.« Yeagers Stimme war überraschend tief und sonor, ideal um eine Predigt hinauszuschmettern. »Komm herein. Nur keine Scheu. Komm durch die Absperrung da.«
Verstohlen warf sie einen Blick auf die anderen vier Männer, aber die schwiegen, gaben nichts preis. Welche Aufgabe hatten sie? Beobachten? Fragen stellen? Ihre Haut sonderte jene Mischung übler Gerüche ab, die Alex inzwischen mit dem Alter verband: Pfefferminz und papierne Haut, schmutzige Socken und Furze und überhaupt eine muffige Hinfälligkeit. Wenigstens nichts Bedrohliches.
Yeager war anders. Er roch undurchsichtig und kalt, wie Rauchglas oder Nebel. Ein bisschen wie Jess, fand Alex: nichtssagend. Ihr war schleierhaft, was er im Schilde führte oder was er empfand.
»Schön.« Yeager spähte von seiner Richterbank herab. Aus diesem Blickwinkel erinnerte er nun eher an einen Geier. »Endlich lernen wir uns kennen. Mein Enkel hat mir von dir erzählt.«
Was hatte Chris wohl gesagt? »Ja, Sir.«
»Ich möchte gern mit allen Verschonten sprechen. Ihr seid unsere Zukunft, und wenn die Zeit gekommen ist, möchte ich das Gefühl haben, dass wir die richtige Wahl getroffen haben. Tritt näher, damit ich dich von Nahem sehen kann.« Yeager winkte sie heran, und jetzt
Weitere Kostenlose Bücher