Ashes Bd. 1 Brennendes Herz
hättest ihn an dem Tag schon vorher sehen können, ohne dass es dir bewusst war.«
»Sie wissen, dass das nicht stimmt.«
»Ja, natürlich.« Er machte eine beschwichtigende Geste. »Ich glaube dir. Aber dieser Supergeruchssinn, den du da hast … der ist Segen und Fluch zugleich. Für uns ist er von Vorteil, weil du vielleicht Jugendliche erkennen kannst, die den Hunden entgehen – und das waren einige.«
Vor ihrem geistigen Auge sah Alex Paraden von Kindern vorbeiziehen, die sie begutachten sollte. »Ich will das nicht machen.«
Kincaid bedachte sie mit einem strengen Blick. »Du bist ein kluges Mädchen, muss ich dir da wirklich alles haarklein auseinanderklamüsern? Wir müssen jeden Vorteil nutzen, den wir haben – und dazu gehörst auch du. Allerdings könnte das noch zum Problem werden, weil dann dein Wort gegen ihres stünde. Gerüche kann man nicht sehen oder anfassen.«
»Aber Yeager glaubt ihr doch auch.«
»Yeager stammt aus einer der Fünf Familien. Und jetzt ist er Vorsitzender des Rats.«
Ja, jetzt schon, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich die Gemeinde von einem Demenzkranken hatte regieren lassen. Wer hatte hier wohl das Sagen gehabt, bevor Yeager erweckt wurde? »Ich lüge nicht.«
»Wir beide wissen das, aber warum sollten dir die anderen vertrauen? Wenn herauskommt, welche Fähigkeit du hast, könnte auch jemand anderer auf die Idee kommen, so einen Supersinn bei sich zu entdecken, um damit Schindluder zu treiben. Verstehst du, was ich meine? Am Ende fangen wir wieder an mit Hexenverbrennungen, und so einen Mist können wir uns nun wirklich sparen.«
Darüber hatte sie nie nachgedacht, aber es leuchtete ihr ein. In der Schule genügte manchmal schon ein Gerücht, und jemand war unten durch. »Okay.«
»Gut. Wenn du also etwas Verdächtiges wahrnimmst, sagst du es mir oder dem Reverend, sonst keinem. Verstanden?«
Und auch keinem anderen Ratsmitglied … interessant. »Was machen Sie, wenn plötzlich noch jemand mit irgendeinem Supersinn daherkommt?«
»Darum kümmern wir uns dann. Ich glaube, so häufig ist das sowieso nicht.« Wieder musterte er sie mit seinem blinzelnden Auge. »Was aber an der eigentlichen Frage vorbeigeht.«
»Und die wäre?«
»All die Überlebenden, wir älteren Leute – unsere Gehirne ticken schon ziemlich anders als bei Leuten, die um die Vierzig oder Fünfzig sind. Die Schlafmuster beispielsweise sind ganz andere, wir träumen auch nicht so viel wie Jüngere.«
Alex dachte an Tom und seinen unsteten Schlaf, an ihr Monster und an jenen Albtraum. »Liegt es also nur am Schlaf? An den Träumen?«
»Ein monokausaler Zusammenhang? Nein, wahrscheinlich muss einiges zusammenkommen, um den Ausschlag zu geben. Die Gehirne älterer Leute sind einfach nicht mehr so agil wie in jungen Jahren. Sie produzieren weniger neurochemische Stoffe, weniger Neurotransmitter. Obwohl man das nicht pauschal sagen kann. Es gibt Neunzigjährige, die geistig noch topfit sind. Ich kannte sogar einen – aber das Aberwitzige war, dass er auf der Stelle tot war. Als wäre er vierzig und nicht neunzig gewesen.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Nun, überlegen wir mal. Ursache des Ganzen waren ja EMPs, eine ganze Reihe hochkapazitativer elektromagnetischer Impulse. Na, und was ist das anderes als eine elektrische Entladung, und was ist das Gehirn anderes als ein Organ, das aufgrund elektrischer Spannungsunterschiede funktioniert? Das Hirn ist wie ein Bienenstock, alle Neuronen müssen in der richtigen Reihenfolge feuern, sonst bricht das Chaos aus – ein Schwarm Bienen, von denen jede unkoordiniert irgendwas anderes macht.«
Alex meinte zu begreifen, worauf er hinauswollte. »Wenn das Hirn einen entsprechend hohen elektrischen Impuls bekommt, löst das also Chaos aus? Eine Flut von neurochemischen Botenstoffen wird freigesetzt? Warum ist das so gravierend?«
»Weißt du, was ein Schlaganfall ist, Alex? Es ist auch so eine Chaosgeschichte: Ein Haufen Hirnzellen arbeitet nicht mehr koordiniert. Ein Hirnschlag kann einen auch umbringen. Das Hirn friert gewissermaßen ein, und man stirbt. Was ich also denke, ist, dass ältere Menschen mit bereits eingeschränkten Hirnfunktionen einen Schutz hatten. Sie haben zwar einen Mordsschreck gekriegt, sind aber nicht gestorben. Die von uns, die ganz schlecht dran waren – die Erweckten – hatten Hirne wie vertrocknete Rosinen. Deshalb sind wir durch diesen Impuls sozusagen aufgeweckt worden, unsere Gehirne wurden zur Produktion
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