Ashes Bd. 1 Brennendes Herz
Bettfedern zuckte sie zusammen, aber Sarah schlief tief und fest und rührte sich nicht. Alex ging zum Fenster, schob den Vorhang ein klein wenig beiseite und spähte hinaus. Sie hörte das leise Aufklatschen von Schneeflocken an der Scheibe, sah aber nichts. Draußen herrschte tiefe, dunkle, grenzenlose Nacht. Ohne Straßenlaternen oder die gleichmäßige Auf-und-Ab-Bewegung einer Taschenlampe oder wenigstens eine Zigarettenglut konnte sie bestenfalls raten, wo sich der Wachmann aufhielt, und wahrscheinlich drehte er Runden, allein schon um sich warm zu halten. Ihr wurde klar, dass sie gar nicht wusste, ob die Männer eine Art Unterstand oder Wachhäuschen hatten, was ja eigentlich naheliegend wäre. Sich in einem Schneesturm herumzutreiben war sicherlich für niemanden ratsam, nicht einmal für jüngere Männer, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass irgendein armer alter Trottel die ganze Nacht mit seinem Gewehr auf dem Schoß auf einer Veranda hockte. Wahrscheinlicher war, dass es berittene Patrouillen gab wie bei der New Yorker Polizei. Das galt es herauszufinden.
Und was war mit den Hunden?
Verdammt!
Wenn sie an Hunden vorbeikam – und das war unvermeidlich – würden sie sie verraten. Jeder Hund war ihr größter Fan. Ghost mitzunehmen war in Ordnung, aber mit einer ganzen Meute im Schlepptau … Ja, aber vielleicht konnte sie das irgendwie zu ihrem Vorteil nutzen? Im Geiste sah sie sich eine Hundearmee aufstellen: Lauft! Apportiert! Totstellen! Das kannst du zum Henker vergessen, hätte Tante Hannah gesagt.
Die Kälte kroch durch das Glas und legte sich auf ihr Gesicht. Sie stellte sich vor, sie wäre allein da draußen und kämpfte sich durch das Schneetreiben. Selbst mit Schneeschuhen und Skiern ein mühsames Unterfangen. Und das Zeitfenster für ihre Flucht schloss sich bald. Der Winter hatte eben erst begonnen.
Sie musste raus, und am besten ohne dass man sie erwischte oder gar für einen Plünderer hielt und erschoss. Vielleicht also an der südwestlichen Ecke hinausschlüpfen, möglichst schnell zum alten Bergwerk, danach in einer Schleife wieder Richtung Norden und … wohin dann?
Minnesota. Die Grenze. Kanada. Wenn Tom noch lebte, würde er dorthin gehen. Ein ziemlich langer Weg und ein riesiges Land noch dazu, aber wenn Tom noch lebte …
Wenn Tom noch lebte …
»Tom«, hauchte sie seinen Namen ganz leise und schaute zu, wie die Scheibe beschlug und dann langsam wieder klar wurde, sodass nur die Erinnerung blieb, dass da irgendwas gewesen war.
Wenn Alex nur seinen Namen dachte, kehrte dieser hohle Schmerz wieder zurück. Falls Tom nicht gestorben war, wo war er dann? Was war mit ihm passiert? Suchte er nach ihr? Nein, dann wäre er inzwischen hergekommen, er wusste, dass sie nach Rule wollte. Wenn er jedoch noch am Leben war und im selben Moment an sie dachte, in dem sie an ihn dachte, dann vielleicht …
Sie schloss die Augen. Zwang sich, ganz ruhig zu werden, alle Gedanken in Nichts aufzulösen, und doch gestattete sie sich die Erinnerung an seinen Geruch, jenen seltsam würzigen Duft, der Tom ausmachte.
Blitzartig tauchte er in Bildern und Empfindungen auf: Tom im Schein des Feuers, Tom, wie er sie in jener Nacht am Funkgerät umarmte, Toms Silhouette, als er über sie wachte. Toms Lippen. Toms Hand in ihrem Haar. Sein Geschmack …
Sie wusste nicht, ob die Enge in ihrer Kehle oder dieses Überfließen in ihrem Herzen bedeutete, dass er da war, dass sie irgendwie miteinander verbunden waren. Oder ob all das, was sie sah und fühlte, eine in sinnlicher Fülle schwelgende Erinnerung war: etwas Verweilendes, nicht mehr als die Ahnung einer Berührung, der Hauch eines Worts, ein sich verflüchtigender Duft.
Doch sie spürte ihn trotzdem und dachte sich, dass es vielleicht deshalb manchen Menschen nichts ausmachte, von Geistern heimgesucht zu werden.
56
A m Morgen stand ihr Entschluss fest, dass sie sich fürs Erste an die Regeln halten würde. Aufklären, wie Tom es genannt hätte. Mit Kincaid im Hospiz arbeiten, das zugleich als Krankenhaus diente. Herausfinden, wer wohin ging. Die Lage peilen, Proviant sammeln und sich dann absetzen, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war.
Die Schule war ein Witz. Alex’ Wissen hatte ein viel zu hohes Niveau, als dass die Lehrer noch etwas mit ihr hätten anfangen können, und schon am Mittag des ersten Tages meinte der Direktor, sie könne ebenso gut die ganze Zeit bei Kincaid arbeiten.
Im Gang vor dem Direktorat wartete Chris, um Alex
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