Ashes Bd. 1 Brennendes Herz
weiter. Abgesehen von Bitterkeit und der Offenbarung des Johannes – insbesondere des vom Himmel fallenden lodernden Sterns Wermut – schwelgte der Reverend anscheinend am liebsten in biblischen Brudergeschichten: Jakob und Esau, Ismael und Isaak, Kain und Abel. Für den Reverend trugen die Veränderten das Mal des Kain, besaßen die Schlechtigkeit Ismaels und die derbe Primitivität Esaus. Kain mochte ja eine Dumpfbacke gewesen sein, aber soweit Alex sich erinnerte, hatte Jakob seinen Vater hintergangen und Abraham war ein Schürzenjäger gewesen. Was das über Esau aussagte, der nur ein derber, schwer arbeitender Bauer gewesen war, der sich auf das nächste Essen freute, oder über den armen Ismael – dessen einziges Verbrechen anscheinend darin bestanden hatte, geboren worden zu sein –, wusste sie nicht. Jess’ versteinerter Blick, den sie auf den Reverend richtete, als dieser mit seinem Bruder-Schwulst anfing, und ihr anschwellender Duft nach weißer Leere ließen vermuten, dass auch bei ihr diese Brudergeschichten einen empfindlichen Nerv trafen.
Alex’ Gedanken jedoch schweiften ab. Gott und Religion bedeuteten ihr schon seit Langem nicht mehr viel. Mit schwärzer als schwarz brauchte ihr keiner mehr zu kommen. Das kannte sie schon, das war für sie abgehakt.
Erst als Alex eineinhalb Wochen später Jess’ Haus verließ, sah sie Chris wieder, der draußen mit Honey auf sie wartete.
»Hi«, sagte sie ehrlich überrascht. »Ich dachte, Greg wäre von jetzt an mein Begleitschutz.« Zu spät wurde ihr klar, wie sich das anhörte, und sie fügte hinzu: »Ich meine, ich dachte, du wärst zu beschäftigt …«
»War ich auch«, erwiderte er und gab ihr Honeys Zügel. Das dünne Lächeln auf seinem Gesicht erstarb. Dann wandte er sich ab, setzte die Sonnenbrille auf und schwang sich auf seinen Braunen. Vom Rücken des Pferdes schaute er zu ihr hinab. »Aber jetzt bin ich zurück. Ist das für dich in Ordnung?«
»Klar.« Ihre Wangen glühten, doch ob aus Ärger oder Verlegenheit, wusste sie selbst nicht genau. Er sagte nichts mehr, während Alex aufstieg und sie losritten. Dumpf schlugen die Pferdehufe auf dem Neuschnee auf. Als sie Jess’ Straße hinter sich gelassen hatten, unternahm sie einen weiteren Versuch. »Und, wo warst du? Draußen auf der Suche nach Vorräten?«
»Mm-hm.«
»Ah … und wo?«
»In der Gegend.« Sein Blick blieb weiter auf die Straße vor ihnen geheftet. »Da oben bei Oren.«
»Aha.« Sie überlegte, was sie sagen sollte. »Ist das nicht ziemlich weit?«
Ein kurzes Schulterzucken. »Halb so schlimm. Nur ein paar Kilometer hinter Merton.«
Alex wusste, wo Oren lag, und das waren wesentlich mehr als nur ein paar Kilometer. »Näher gab es das nicht, was ihr gesucht habt?«
Er zögerte, ehe er Antwort gab. Sie konnte förmlich sehen, wie es in ihm arbeitete. »Mir ist eingefallen, dass es in Oren so einen Bücherbus gab.«
Einen Moment war sie verwirrt, bis sie sich an Chris’ Gespräch mit dem Schuldirektor erinnerte. »Du hast diesen langen Weg nur wegen Büchern gemacht?«
»Na ja, nicht nur wegen Büchern. Es gab auch andere Sachen.«
»Und hast du den Bücherbus gefunden? Wie viele Bücher waren noch da?«
»Alle, soweit ich es beurteilen kann. Es war …« Chris’ Stimme bekam einen wehmütigen Beiklang, »… irgendwie so friedlich.«
Das konnte sie sich gut vorstellen: ein schöner, stiller, großer Bus voller Bücher. »Wie viele Bücher habt ihr mitgebracht?«
»Alle.«
» Alle? Das müssen ja etliche Wagenladungen gewesen sein.«
»War nicht so wild. Peter war ein bisschen angefressen, aber der Winter ist ziemlich lang, und mehr Bücher finden wir bestimmt nicht.«
»Wer weiß«, meinte sie, »vielleicht schreiben wir selber welche.«
Da schaute er sie an. »Wolltest du Schriftstellerin werden?«
»Ich habe über meine Zukunft nicht groß nachgedacht.« Es kam ihr gelegen, dass sie dabei nicht lügen musste. Ihre einzige Zukunftsperspektive war ein Verfallsdatum gewesen.
»Der Doc sagt, du bist gut. Als Assistentin, meine ich.«
Das klang nicht, als wäre es als Frage gemeint, daher sagte sie nichts darauf.
»Hast du mal daran gedacht, Ärztin zu werden?«, fragte er.
»Eine Zeit lang.«
»Was hat dich davon abgebracht?«
»Ach, na ja«, antwortete sie vage, »ich wollte mir alle Möglichkeiten offenhalten.«
Schweigend ritten sie den Rest des Weges weiter. Am Hospizeingang sagte Chris: »Warte mal kurz.« Er griff in seinen Parka und zog ein
Weitere Kostenlose Bücher