Ashes Bd. 1 Brennendes Herz
etwas essen wollten.
Dann bemerkte sie noch etwas.
Manche der Toten waren sehr alt – zu alt, um an jenem ersten Tag umgekommen zu sein. Sie waren erschossen worden: teils in den Rücken, teils in die Brust und viele in den Hinterkopf. Den meisten hatte man die Kleidung weggenommen, sie war nicht von Tieren zerfetzt und weggerissen worden, man hatte sie ihnen einfach ausgezogen. Diese Leichname waren jüngeren Datums und lagen auf Haufen oder dicht beieinander auf weggeworfenen leeren Rucksäcken, Reisetaschen und Koffern.
Diese Menschen hatten überlebt, nur um danach von ihresgleichen ausgeraubt und ermordet zu werden: von den Harlans, den Bretts, den Marjories.
Und da verstand sie endlich, dass Larry recht gehabt hatte.
Diese Jugendlichen mit den durchgeschmorten Hirnen waren nicht der einzige und nicht einmal der schlimmste Feind.
Als sie an einem kleinen Lieferwagen vorbeiging, dessen Türen offen standen – in den Sicherheitsgurten hingen zwei übel zugerichtete, fast schon skelettierte Körper –, hörte sie ein anderes Geräusch als das raue Krächzen eines Vogels. Das mitleiderregende Wimmern klang fast wie das Weinen eines Babys. Sie blickte hinunter und sah neben dem Auto einen alten Mann und eine noch ältere Frau mit dem Gesicht nach unten ausgestreckt auf einem Haufen geklauter Reisetaschen liegen. Man hatte ihnen, der nicht vorhandenen Schneedecke nach, vor gar nicht langer Zeit in den Hinterkopf geschossen. Da sich der Mantel der Frau hochgeschoben hatte, konnte Alex ihre gespreizten fleischigen Schenkel sehen, oberhalb der Stützstrümpfe traten die grünlich schimmernden Krampfadern hervor. Flach mit dem Gesicht auf dem Boden liegend und mit den ausgebreiteten Armen sah sie wie ein umgedrehter Schneeengel aus. Um das rechte Handgelenk trug sie eine Lederschlaufe, die Leine daran schlängelte sich unter das Fahrzeug.
Dann stieg ihr ein sehr vertrauter Geruch in die Nase.
»Du lieber Himmel«, sagte sie laut, kniete sich hin und spähte in das Dunkel unter dem Lieferwagen.
Neben dem rechten Vorderreifen kauerte ein zitternder grauer Welpe.
Sie hatte keine Ahnung, was für einer, er sah wie eine Kreuzung zwischen irgendeinem Jagdhund und einem Labrador aus. Als er sie entdeckte, winselte er und rutschte dann auf dem Bauch ein paar Zentimeter in ihre Richtung. Zaghaft, aber hoffnungsvoll bewegte sich der Schwanzstummel einmal hin und her.
Plötzlich schien es ihr wichtig, den Hund zu retten. Wenn sie ihn retten konnte, war das ein gutes Omen, dann konnte sie auch Tom retten. Später fiel ihr auf, wie unlogisch dieser Gedankengang war, aber das änderte nichts an ihrem Bedürfnis.
Sie riss eine Packung getrocknetes Fleisch auf und bot dem Tier eine Scheibe an. Bei dem Geruch kam der Welpe noch ein paar Zentimeter näher, sie spürte seine Nase an den Fingern, dann schnappte er sich das Fleisch, doch nur um es ein paar Sekunden später wieder auszuspucken. Winselnd schob er es mit der Nase hin und her, und Alex verstand, dass es für den Kleinen zu groß und zu zäh war. Also schob sie sich eine neue Scheibe in den Mund und kaute sie zu Brei. Das Aroma des gut gewürzten Rauchfleischs war so appetitlich, dass sich ihr Magen zusammenkrampfte und sie sich zusammenreißen musste, um es nicht selbst zu schlucken. Als sie das Fleisch auf den Boden spie, hörte sie ihren Magen knurren.
Diesmal verschlang der Hund das Fressen mit einem Bissen und bettelte dann um mehr. Nach drei weiteren Fleischscheiben flitzte der Kleine unter dem Lieferwagen raus, grunzte wie ein Ferkel und wackelte und wedelte mit dem grauen Bleistiftstummelschwanz.
Alex machte die Leine von seinem Halsband los und nahm den Hund auf den Arm. »Na, wie heißt du denn?«
Der Welpe kläffte leise. Sein kurzes Fell war silbergrau, er hatte tiefblaue Augen, riesige Pfoten und wog bestimmt zehn Pfund. Sie fütterte ihn mit dem restlichen Fleisch, durchwühlte dann die weggeworfenen Taschen und brachte drei Dosen Welpenfutter, eine Schachtel eingeschweißtes Trockenfutter und eine kleine Aluminiumwasserschüssel zum Vorschein, in die sie kostbare fünf Zentimeter aus ihrer Flasche goss.
Danach steckte sie den Hund unter ihre Jacke, knöpfte sie zu und schnallte den Gürtel enger um die Taille, damit der Kleine nicht herausrutschen konnte. Nun sah sie entweder schwanger aus oder als ob sie einen sehr großen BH bräuchte. Der Hund war der reinste Backofen. Als er den Kopf herausstreckte, damit er alles mitkriegte, musste sie
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