Ashes - Pechschwarzer Mond (German Edition)
Ellie war so außer sich vor Angst, dass sie schon mit dem Gedanken spielte, einfach weiterzugehen. Die Stacheln ließen sie immer wieder zusammenzucken, während sie das Knäuel zu entwirren versuchte. Sie warf einen Blick auf ihren Hund. Ohren gespitzt, Schnauze geschlossen, Nasenlöcher geweitet – aufmerksam, aber nicht alarmiert. Gut. Doch dieses blöde Knäuel kriegte sie nicht auseinander. Sie zog ihr Leek-Messer aus der Tasche und ließ die silbergraue Wellenschliffklinge aufschnappen.
Die Augen des Mädchens wurden riesengroß. »Was tust du da?«
»Ich schneide es ab.«
»Warum? Nein! «
Ellie hätte sie am liebsten angebrüllt, doch dann sagte sie nur: »Ich heiße Ellie. Und du?«
»Debbie.« Das Kinn des Mädchens zitterte. »Mein Dad hat mich Dee genannt.«
»Also, Dee, ich krieg deine Haare da nicht raus.« Wieder knackte es irgendwo hinter ihr im Geäst, doch nur kurz, und ihre Aufmerksamkeit war sowieso ganz auf Dee gerichtet. »Ich muss es abschneiden, oder wir reißen es los, was sehr wehtun wird. Abschneiden merkst du nicht.«
»Neeiiin.« In Dees blauen Augen standen wieder Tränen. »Es ist mein Haar.«
Mach’s einfach. Sie fuhr mit der Wellenschliffklinge unter das Wirrwarr und fing an zu sägen. »Es wächst nach.«
»Aber, aber … « Dee wand sich. »Kannst du nicht einfach die Zweige abschneiden?«
»Nein, kann ich nicht.« Sie würde die Kleine noch erdolchen, wenn sie nicht endlich damit aufhörte. »Bleib mal ruhig stehen. Nur noch dieses kleine … « Ellie wurde starr vor Schreck, denn Mina machte einen Schritt … und schnüffelte.
O Mann. Mina schaute allerdings nicht in die Richtung, aus der sie gekommen waren, sondern nach vorn, wo sie hingehen wollten. Hinter Ellie.
»Was ist?«, fragte Dee, als Ellie sich nicht rührte. »Was … «
»Psst!« Die Nerven zum Zerreißen gespannt, bückte sich Ellie, nahm die Savage und richtete sich langsam auf. Als sie das Gewicht verlagerte, brach knackend ein Kiefernzweig. Minas Ohren zuckten nur, sie blieb in Habachtstellung, rührte sich nicht.
»Oh.« Das war Dees Stimme, und sie klang wie vorhin, als sie die anderen im Wagen gewarnt hatte: He, schaut mal. Schaut doch alle.
Ellie drehte sich um … und was sie da zwischen den Bäumen sah, ging ihr durch Mark und Bein.
Es war nur eine, aber o Mann, das war mehr als genug. Das Mädchen hatte einen ramponierten Aluminiumschlagstock mit rostroten Flecken in der Hand. Sie hatte anscheinend Übung.
Und sie hatte noch etwas, das Ellie ins Auge fiel. Und in diesem Moment verstand Ellie auf einen Schlag, wie all diese Menschenfresser sie überhaupt gefunden hatten.
Es war das Einzige, worüber sie sich trotz ihrer Angst die ganze Zeit den Kopf zerbrochen hatte. Wie kam es, dass die Menschenfresser sie hier erwartet hatten? Finn rückte von Süden an. Das hieß zwar nicht, dass sie im Norden freie Bahn hatten, aber sie und Jayden und Chris waren vor kaum mehr als zwölf Stunden aus dieser Richtung nach Rule gekommen. Na ja, nicht ganz, eher von Nordwesten. Aber ihnen waren keine Menschenfresser begegnet. Mina hatte nicht ein einziges Mal angeschlagen. Warum also waren die Menschenfresser jetzt hier?
Jeder wusste: Menschenfresser kehren zu Vertrautem zurück. Chris war ihnen vertraut. Jayden auch. Chris’ Plan war ja gewesen, sich selbst als Lockvogel einzusetzen und sie so von Hannah, Isaac und den anderen wegzulotsen. Um die Menschenfresser, sobald sie angriffen, zu töten. Nur dass es nie so weit gekommen war.
Kaum hatten sie es nach Rule geschafft, hatten sich die Ereignisse überschlagen, eine Katastrophe jagte die andere. Chris war schwer verletzt worden und fast gestorben und dann Tom, und jetzt war Finn im Anmarsch, und sie mussten überstürzt die Stadt verlassen … na ja, am Ende hatten sie es einfach vergessen, nicht mehr dran gedacht.
Doch schau an, Chris’ Plan hatte funktioniert. Nur zum falschen Zeitpunkt.
Denn hier stand nun dieses Mädchen. Und Ellie kannte nur eine Menschenfresserin mit einem lindgrünen Schal.
Lena.
51
» B leib hinter mir.« Ellie klappte das Messer zu und schob es sich vorn in die Tasche. Ohne sich darum zu scheren, wie Dee reagierte, hob sie die Savage. Mit ihrem Wage-es-ja-nicht -Knurren hatte sich Mina zwischen sie beide und Lena gestellt.
Knapp zehn Meter vor ihnen blieb Lena abrupt stehen. Ihre Augen lagen weniger tief in den Höhlen als beim letzten Mal, und außer dem Schal trug sie andere Klamotten. Vielleicht
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