Ashes - Ruhelose Seelen (German Edition)

Manöver wiederholte er zweimal im Eiltempo. Gesamtzeit: ungefähr eine Minute.
    »Gut gemacht. Was da noch drin ist, sitzt fest wie eine Motte im Einmachglas. Hast du den Grundriss vor Augen?« Pru wies auf den Altarraum. »Sonntags schlafe ich immer mit offenen Augen …«
    »Drei Stufen, und du bist auf dem Podest. Der Chor ist rechts, der Altar links an der Wand unter dem Kreuz. Kanzel auf ein Uhr am hinteren Ende. Wenn du geradeaus gehst, kommst du zur Orgel.« Er überlegte. »Ich gehe rechts lang, das Seitenschiff hinunter. Wenn nichts dazwischenkommt, gehst du aufs Podium.«
    Pru nickte, und Greg schlich die Stufen hinauf, so schnell er sich traute. Erst kam das Kreuz links in sein Blickfeld, dann sah er die hohen Bögen der Buntglasfenster an der gegenüberliegenden Wand des Altarraums. Er hörte ein Quietschen und dachte: Mist, im Film drücken sie sich immer an der Wand lang, damit die Treppe nicht …
    Da krachte es ohrenbetäubend, ein Blitz flammte auf. Greg keuchte, als er das Einschussloch über seinem Kopf sah. Er stolperte rückwärts, fiel über die eigenen Beine und schlug der Länge nach hin, als ein weiterer Schuss dröhnte. Eine Kugel schwirrte an seiner Schläfe vorbei.
    »Verdammt.« Prus Gesicht tauchte vor ihm auf. »Hat’s dich erwischt?«
    »Nein.« Sein linkes Ohr fühlte sich an, als hätte jemand eine Handvoll Watte reingestopft, aber er hörte das Tick-tick-tick der Schrotkugeln und das leise Rieseln von Kies und Putz. Wenigstens wussten sie jetzt, was für eine Waffe der Veränderte hatte. Das Loch in der Trockenbauwand war tränenförmig, aber die Kurve verlief seltsamerweise nach oben. »Ich glaube, er ist unter dem Altar.«
    »Ja. Und?«, gab Pru ärgerlich zurück. »Wie zum Teufel sollen wir … Moment mal, Greg, warum ziehst du die Stiefel aus?«
    Damit er was zu gucken hat. Solange die Glocke läutete, machte er sich hier im Innern des Kirchenschiffs um Lärm keine Gedanken, aber sehen konnte dieser Veränderte einwandfrei. Hastig riss er sich auch den anderen Stiefel vom Fuß, zog die Socken aus und stopfte sie in seine Parkatasche. Er hob einen Stiefel in die Höhe und warf Pru einen Blick zu. »Er hat eine Flinte.«
    »Aha …« Pru sah ihn verdutzt an, aber dann fiel bei ihm der Groschen. Eine Flinte hatte eine wirksame Schussweite von höchstens vierzig Metern. Die Mannstoppwirkung war hoch, aber wenn es ihnen gelang, sich weit genug zu entfernen, wären Gregs Gewehr oder Prus Mini-14 überlegen. Pru nickte. »Okay«, sagte er. »Lauf einfach … schnell .«
    Geht klar. Greg holte tief Luft. Lieber Gott, mach, dass es klappt.
    Dann hörte er auf zu denken und stürmte los. Er flitzte die Treppe hinauf, schleuderte den Stiefel unbeholfen hoch und wich sofort nach rechts aus. Im selben Augenblick röhrte die Flinte, der Schuss folgte der Wurfbahn des Stiefels. Über das Klingeln in seinen Ohren hinweg hörte er, wie Pru feuerte, gleichzeitig ließ Greg sich auf den Steinboden fallen. Wieder donnerte die Flinte. Diesmal zerbarst die Sitzbank über seinem Kopf zu einer Wolke aus Splittern. Während er mit einer Hand Kopf und Hals schützte, rannte Greg in gebückter Haltung das Seitenschiff entlang. Hinter sich hörte er das scharfe Krachen von Prus Ruger, das lauter wurde, als Pru die Stufen heraufstürmte. Greg wandte sich nach links, seine nackten Füße patschten auf dem Steinboden, als er, immer noch geduckt, durch die enge Kirchenbank auf den Mittelgang zuraste.
    In diesem Moment verstummte die Glocke. Die anderen sind drin. Sie sind in Sicherheit. Er spürte ein Brennen im Hals, musste schlucken. Tori ist außer Gefahr.
    Vom Altar hörte er etwas Schrilles – ein Ruf, ein Schrei? –, dann stellte er sich auf die Hacken, wirbelte herum, riss die Bushmaster hoch und dachte nur noch: Los, ziel!
    Aber er kam nicht mehr dazu, sie abzufeuern.

51
    In der plötzlichen klingelnden Stille sah Greg, wie Pru vor dem gekrümmten Körper eines Jungen stand. Als ihn der Schuss traf – seiner Haltung nach zu schließen in den Bauch –, hatte der Veränderte anscheinend versucht wegzurollen, denn nachdem Greg an ihm vorbeigeflitzt war, musste er schnell sein, wollte er nicht von Kugeln durchsiebt werden. Doch der Junge hatte sich nicht schnell genug bewegen können, um Prus Kugeln zu entgehen, und Greg wusste nun auch, warum.
    Ein gegabelter Knochensplitter ragte aus einem nassen Riss am Oberschenkel des Jungen. Jetzt, da Greg stand, konnte er die Blutspur sehen, die sich