Ashes - Ruhelose Seelen (German Edition)
Schritt. Und noch einer.
»Bitte. Hilf mir.« Die Treppenspindel in ihrem Nacken fühlte sich kalt an. Sie starrte so angestrengt in das silbergraue Halbdunkel, dass ihr die Augen tränten. »Ich blute, ich …«
Da tauchte etwas Dünnes, Schwarzes auf. Sie hielt den Atem an, als der Lauf von Toris Flinte für einen Augenblick verharrte. Noch einmal rufen wollte sie nicht, damit er nicht in ihre Richtung sah. Wieder vernahm sie das Geräusch seines Stiefels auf Stein, nur ein einzelner Schritt. Die Flinte bewegte sich, war nach oben gerichtet, nicht auf sie. Wegen der Enge des Turms konnte er nicht anders. Er würde einen Moment brauchen, um tiefer zu zielen.
Mit hämmerndem Herzen beobachtete sie, wie der Lauf wippte, als er noch eine Stufe nahm, und noch eine. Erst kamen seine Hände in Sicht – warte, warte –, dann die Wölbung seiner Stirn, seine Nase – noch eine Sekunde –, und dann war er nur noch drei Stufen unter ihr – warte, warte –, sie sah Schultern und Brust, und da fuhr sein Kopf herum, sein Gesicht wurde zu einem grauen Oval – gleich, gleich –, und sie hörte, wie er aufkeuchte, weil er merkte, dass er zur falschen Zeit am falschen Ort war, und wie der Gewehrkolben über den Stein scharrte, als er versuchte, den Lauf nach unten zu reißen. Aber er schaffte es nicht, denn er war ein großer Junge mit einem langen Gewehr in einem zu engen Treppenhaus.
» Ahh!« Der Laut war eher ein Pfeifen als ein Schrei. Aber sie drückte ab.
Und diesmal feuerte die Pistole.
48
Gregs Kopfschmerzen wummerten immer noch bis in die Zähne. Sein Blickfeld verschwamm an den Rändern, doch als er mit der Schulter die Tür aufstieß und aus dem Gemeindehaus wieder hinaus in die Kälte trat, seufzte er erleichtert auf. Mit dem Gemeindehaus verband er eine Menge schlimmer Erinnerungen: Flüchtlinge, alle alt und gebrechlich, die sich an den Wänden entlangdrückten; dieser gruftartige Gerichtssaal, wo ihn die Ratsmitglieder von ihrer hohen Bank aus wie Eulen anglotzten, am allerersten Tag, als er um Asyl gebeten hatte.
Wahrscheinlich was Posttraumatisches. Er zog seine Handschuhe an und stampfte mit den Füßen auf, während er auf die anderen wartete, die drinnen noch ihre Beute auspackten. Das Gefängnis im Keller, mit einer Doppeltür aus Eisen gesichert, diente als Warenlager für die letzten Vorräte an Lebensmitteln und Futter sowie für große Mengen an Brennstoff, Düngemitteln und Munition.
Schlimm war jedoch, was sie alles nicht hatten. In dem weitläufigen Gefängnis gab es zehn Vierpersonenzellen, je fünf nebeneinander. Ein riesiger Eisenkäfig – dem leichten Geruch von Erbrochenem nach zu schließen früher wohl eine Ausnüchterungszelle – nahm fast die ganze Rückwand ein. Hier bewahrten sie die Brennstoffe auf: Propangasflaschen, rote Plastikkanister mit Benzin, das man aus fahruntüchtigen Autos abgepumpt hatte, Heizöl, Zweitaktgemisch. Von allen Vorräten waren die Brennstoffe das geringste Problem, einfach weil niemand mehr schweißte, Motorboot fuhr, eine Kettensäge anwarf oder einen Ausflug mit dem Auto machte. All dieses hochentzündliche Zeug machte Greg nervös. Zwar fragte ihn niemand nach seiner Meinung, aber er machte sich Sorgen, was passieren würde, wenn jemand mal nicht aufpasste oder ein Funken flog. Konnte man nicht aus Zweitaktgemisch oder Heizöl plus Düngemittel sogar Sprengstoff herstellen?
Nur drei der übrigen Zellen enthielten Lebensmittel, in einer davon wurde das Hundefutter aufbewahrt: Dosenfutter, Zehnkilosäcke mit Trockennahrung. Die Stahlregale in den beiden anderen Zellen waren zwar nicht gerade leer, aber auch nicht gut bestückt. Was in dem engen, dunklen Speisekammerverschlag der Landrys so wunderbar ausgesehen hatte, fiel hier kaum ins Gewicht. Die acht Gläser, die er gebracht hatte, standen jetzt als verlorenes Grüppchen auf einer großen, sonst leeren Regalfläche. Als der Wachmann die Gläser einräumte, hatte Greg die Suppendosen im Regal darüber gezählt … nur interessehalber.
Dreißig Dosen. Ihm lief es kalt über den Rücken. Bei vierzig hungrigen Kindern reichte das gerade mal drei Minuten. Die Wachen führten sorgfältig Buch über jede Dose, jedes Glas, jeden Sack Trockenfutter. Wie sollten sie da Lebensmittel, geschweige denn Munitionskartons für ihre große Flucht herausschmuggeln? Aussichtslos. Er massierte sich mit dem Zeigefinger die Schläfe. Wir werden nie genug zusammenkriegen …
Da knallte etwas. Ein kurzes,
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