Ashes - Ruhelose Seelen (German Edition)
erschlafften, als sich Travers mit einem Fuß auf ihn stellte und unter dem Krachen von Knochen die Hacke hochriss.
Die Menge schloss sich enger um den Jungen. In einem wogenden Meer aus sich hebenden und senkenden Rücken und Beinen, Gewehren und Fäusten und Schlägern, einem Rechen und einer Hacke, ging Ben Stiemke unter. Er würgte, erstickte fast an seinem eigenen Blut. In dem hohen Kirchenraum schwoll der Lärm immer mehr an und steigerte sich zu einer Explosion aus unartikulierten Lauten, Grunzen und Knurren. Es war, als würde man Ameisen zusehen, wie sie aus ihrem Bau strömten und sich über ein kleines verwundetes Tier hermachten. Es überraschte Greg nicht, mitten im Getümmel Aidan, Lucian und Sam zu entdecken. Frische rubinrote Tropfen vermischten sich mit den blauen Tattootränen, die sich über Aidans Wangen zogen. Und wie zur Krönung des Ganzen fuhr Lucian mit seiner langen Zunge obszön über Aidans Gesicht und leckte ihm das Blut ab. Lachend klatschten sich die beiden ab.
In diesem Moment dachte Greg, dass es genauso war wie an jenem Vormittag, an dem seine eigene Welt zerbrochen war: Als seine Eltern sich mit ihm zusammensetzten, um ihm zu sagen, dass sie sich scheiden lassen würden. Er hatte irgendetwas Schreckliches gesagt, ehe er von seinem Vater wegstürmte und dieser ihm nachrief: Warte, mein Junge, bitte. Du weißt doch, dass ich dich immer lieb haben werde. Daraufhin hatte er etwas so Gehässiges erwidert, dass es wehtat, auch nur daran zu denken: Ich scheiß auf dich, ich scheiß auf Liebe! Später, noch immer voller Zorn, hatte er einen Blick aus dem Fenster seines Zimmers geworfen – und gerade noch gesehen, wie sein Dad plötzlich zusammenbrach, während ihr alter Aufsitzrasenmäher alleine weitertuckerte und nur knapp seine Mutter verfehlte. Doch das war egal, denn da war sie schon mausetot. Und der alte Rasenmäher fuhr und fuhr, quer über den Rasen durch den ganzen Garten, und grub ein Chrysanthemenbeet um, bevor er den Schuppen niederwalzte.
So war es auch jetzt: eine fortschreitende Katastrophe, unaufhaltsam, vielleicht unvermeidlich.
Wildes Triumphgeschrei brandete auf. Auf dem Altarpodest hob ein Meer von Händen und Armen Ben Stiemke in die Luft. Das Blut des Jungen regnete auf die Steinstufen herab. Von Bens rechtem Auge war nur noch ein verwüsteter roter Krater übrig. Greg und die anderen wichen zurück, als der Mob den Mittelgang hinunterstürmte und nur kurz innehielt, um auch die Leiche des alten Stiemke vom Boden aufzuheben und mitzunehmen.
Kaum war die Menge draußen, entstand aus der plötzlichen Stille ein ganz eigenes Geräusch. Ein See aus Blut floss vom Altar die Stufen hinab und schickte seine roten Ausläufer in den Mittelgang. Da und dort lagen auch Teile von Bens Körper; Greg entdeckte einen Daumen und etwas, das wie rohe Leber aussah.
»Was haben die vor?«, fragte Sarah mit dünner Stimme.
»Wir werden nicht abwarten, bis wir es herausfinden«, entschied Kincaid. »Ich bringe euch drei ins Hospiz. Ist sicherer dort. Muss mir ohnehin mal dein Bein ansehen, Sarah. Komm, ich trage dich.«
»Nein«, sagte Sarah und verzog das Gesicht, als sie einen humpelnden Schritt versuchte. »Mir geht’s gut.«
»Ach, red keinen Unsinn.« Pru nahm sie so schwungvoll auf die Arme, dass sie fast über seine Schulter gefallen wäre. Er machte eine Geste zum Seitenschiff. »Greg, deine Stiefel. Einer ist ziemlich dreckig von … du weißt schon.«
»Blut lässt sich abwaschen«, meinte Greg. Sein linker Stiefel war feucht und mit schwammigen rosafarbenen Fleischfetzen gesprenkelt. Lunge vielleicht, oder Hirn. Wozu sich die Socken ruinieren, dachte Greg. Er zwängte seinen linken Fuß hinein und verzog das Gesicht, als seine Zehen ein schmatzendes Geräusch verursachten. »Die Pferde sind vor dem Gemeindehaus angebunden. Wenn wir nicht zu Fuß gehen wollen, müssen wir den Platz überqueren.«
»Da kann man nichts machen«, sagte Kincaid. »Hauptsache, wir …«
»Doc?« Als der alte Arzt nicht weitersprach, schaute Greg von seinem rechten Stiefel hoch, in den er gerade schlüpfte, und zuckte zusammen.
»Waffen auf den Boden«, befahl Aidan hinter vorgehaltener Schrotflinte. Geronnenes Blut klebte ihm im Gesicht und auch Lucian richtete in Revolverhelden-Manier zwei Pistolen auf sie. »Aber plötzlich.«
53
Aus dem Himmel war alle Farbe gewichen. Der Mond würde erst in ein paar Stunden aufgehen, und die Sterne funkelten wie Katzengold. Der Schnee glitzerte
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