Ashford Park
konnte.
«Granny?» Clemmie wartete an der Tür.
Granny Addie legte das Buch weg, in dem sie gelesen hatte. «Clemmie!»
Clemmie atmete auf. Granny Addie sprach leise, aber sie klang wieder ganz wie die Alte. Und sie hatte sie gleich erkannt.
«Entschuldige, wenn ich nicht aufstehe, Schatz», sagte sie. «Donna würde mir den Kopf abreißen.»
«Bleib liegen, ich komme zu dir.» Als sie am Bett war, fragte sie «Darf ich?» und wies auf den bereitstehenden Rollstuhl.
Die Augen ihrer Großmutter zogen sich lächelnd zusammen. «Fahrbare Stühle fandest du immer schon großartig. Dein Großvater musste dich endlos auf dem Stuhl in seinem Büro herumrollen.»
«Das hatte ich ganz vergessen.»
Sein ‹Büro› war der Raum gewesen, der jetzt das Fernsehzimmer war, damals sein Arbeitszimmer. Er hatte einen alten Drehstuhl besessen, auf dem er sie im Kreis herumgewirbelt hatte wie auf einem Kaffeetassen-Karussell. Was wohl aus dem alten Stuhl geworden war? Ausrangiert vermutlich.
Sie beugte sich über ihre Großmutter und küsste ihre faltige Wange. «Wie fühlst du dich?»
«Wie neunundneunzig», antwortete Granny Addie. «Viel wichtiger ist, wie du dich fühlst.»
Clemmie biss sich auf die Unterlippe. «Ach, ganz okay. Viel Arbeit. Du weißt schon.» Sie setzte sich vorsichtig in den Rollstuhl ihrer Großmutter und strich den Kostümrock über ihre Knie glatt. «Sag mal, Granny, neulich Abend, als es dir nicht so gutging, da hast du mich Bea genannt. Wer ist das?»
Granny Addie schloss die Augen, und Clemmie fürchtete schon, sie wäre eingenickt. «Meine Cousine. Bea war meine Cousine.» Sie starrte einen Moment lang nachdenklich ins Leere, dann sagte sie abrupt: «Wir sind zusammen aufgewachsen.»
«Und wart ihr euch sehr nah?», fragte Clemmie vorsichtig tastend.
Es dauerte lang, ehe Granny Addie antwortete. «Ja», sagte sie endlich. «Wir waren einander sehr nah. Näher als Schwestern.»
Warum hatte sie dann nie von ihr gesprochen? Warum hatte Clemmie vorher nie von ihr gehört?
Weil du nie gefragt hast, hörte sie Jons Stimme.
«Jon hat mir erzählt, dass du auf einem Landsitz namens Ashford aufgewachsen bist», fuhr Clemmie unsicher fort. «Er hat mir ein Bild gezeigt. Es sah richtig einschüchternd aus.»
«Und wie», sagte Granny Addie freimütig. «Das Haus hat mich in Angst und Schrecken versetzt.» Sie berührte mit einem Finger Clemmies Hand. «Mach die Nachttischschublade auf. Nein, nicht die. Die andere. Ich möchte dir etwas zeigen.»
«
Der Scheich?»
Clemmie hielt hoch, was sie als Erstes gefunden hatte. Es war eine grell aufgemachte Ausgabe des Buchs aus den 1970 er Jahren, auf dessen Einband ein Mann mit viel zu stark geschminkten Augen seine nackte Brust zur Schau stellte. «Also wirklich, Granny.»
«Sei doch nicht so prüde, Schatz. Es ist inzwischen ein Klassiker. Such weiter.»
«Soll ich wirklich?», scherzte Clemmie. «Wer weiß, was ich da noch … Oh!»
Es war ein Schwarzweißfoto. Irgendwann einmal schien es in der Mitte gefaltet worden zu sein, der Knick war deutlich sichtbar. Es war ein großes Bild, beinahe so groß wie ein Blatt von einem Schreibblock. Clemmie erkannte das Gebäude im Hintergrund. Selbst verblasst und an manchen Stellen abgeschabt, war es eindeutig als Ashford Park zu erkennen.
Es sei denn, es war Brideshead, aber das glaubte sie nicht. Der Mann vor dem Haus war definitiv nicht Jeremy Irons.
«Das ist Ashford», sagte Granny Addie.
«Darf ich?», fragte Clemmie und nahm das Bild aus der Schublade. Bei genauerer Betrachtung konnte es sich nur um den Nachdruck einer älteren Aufnahme handeln. Das Glanzpapier war zu dick, um von früher zu stammen, und das Bild war verschwommen wie ein altes Foto, das vergrößert und bearbeitet worden war.
Im Vordergrund war eine Gruppe Menschen zu sehen, deren Mittelpunkt ein Mann und eine Frau bildeten. Der Mann saß, die Frau stand.
«Das ist Onkel Charles», erklärte Granny Addie, auf den Mann zeigend.
Der sechste Graf von Ashford. Er sah aus, wie man sich einen Grafen vorstellte: groß, dünn, würdevoll und tadellos im schwarzen Anzug.
«Wo bist du?», fragte Clemmie.
Granny Addie rückte ihre Brille zurecht. «Da.» Sie zeigte auf eine dunkle verwischte Gestalt ganz auf der Seite. «Hinter Bea. Das daneben ist Dodo, und vorn ist Poppy – sie war die Jüngste –, und gleich hinter Onkel Charles steht Edward. Das Foto ist 1908 aufgenommen worden, zwei Jahre nachdem ich nach Ashford gekommen
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