Ashford Park
ihnen konnte einen Sterblichen in den Wahnsinn treiben. «Laura wird immer kränker und will nur noch Goblinfrüchte haben, die sie nicht essen darf.»
«Und wie geht es aus?»
«Lizzie rettet sie.» Addie kniff die Augen zusammen und zitierte aus dem Gedächtnis: «Denn keine Freundin kann wie eine Schwester, / ob die Zeiten stürmisch oder ruhig, / dich ermuntern auf dem schweren Weg, / dich finden, wenn du verlorengehst, / dir auf die Beine helfen, wenn du fällst, / dich stärken, wenn du stehst.»
Bea war sehr beeindruckt. «Das ist schön», hauchte sie. «Wunderschön.»
Im Kerzenlicht hatte ihr schräg geneigtes Gesicht eine beinahe unheimliche Ähnlichkeit mit Lauras in dem Holzschnitt. Die Schatten ließen es jedoch älter wirken, indem sie es streckten und an einigen Stellen vertieften, so wie es später sein würde.
«Ich hab früher immer so getan, als ob ich eine Schwester hätte», bekannte Addie. Sie unterdrückte ein Gähnen. «Ich habe sie Lizzie genannt, nach dem Gedicht.»
«Du brauchst keine Phantasieschwester mehr.» Impulsiv fasste Bea Addies Hand und drückte sie. «Du kannst meine Schwester sein.»
«Aber du hast doch schon Schwestern», fühlte sich Addie verpflichtet zu sagen. Der lange Tag holte sie langsam ein. Sie musste die Hand auf den Mund drücken, um das Gähnen zurückzudrängen. «Echte.»
«Dodo?» Bea rümpfte die Nase. «Die interessiert sich doch nur für ihre Pferde. Und Poppy ist noch ein Baby. Nein», sagte sie mit Entschiedenheit. «Von jetzt an sind wir Schwestern. Richtige. Solche Schwestern, wie die im Buch, wo eine die andere vor den Goblins rettet.»
Addie gefiel das. «Vor den Goblins», sagte sie schläfrig, «und vor den Tanten.»
Das Letzte, was sie vor dem Einschlafen vernahm, war Beas Lachen, das wie Elfenmusik in der Dunkelheit klang.
New York, 1999
T rotz aller guten Vorsätze fand Clemmie erst nach mehr als zwei Wochen Zeit, Granny Addie wieder zu besuchen.
Wieder war die Arbeit schuld, wie immer. Die Erwiderung für das Verfahren in Dallas war gestern fällig gewesen, und sie hatten alle die Fallrechtssammlung durchforstet, um die letzte krachende Salve des Gegners abwehren zu können. Dann stand die Reise nach London vor der Tür, der Termin war schneller als gedacht herangerückt. Es blieb kaum Zeit für die Vorbereitungen, die Lektüre der vielen Akten, die noch warteten. In ihrem Büro sah es aus wie in einem Kriegsgebiet, überall halbvolle Kaffeebecher, unter ihrem Schreibtisch grüne Fetzchen vom Salat gestern Abend, überall auf dem Boden, wie Schnee, das weiße Konfetti aus dem Locher. Die Reinigungsfrau, die immer gegen Mitternacht kam, hatte nur einen Blick ins Zimmer geworfen, wo Clemmie noch am Schreibtisch saß, und war mit einem Winken wieder gegangen.
Es war herrlich, nicht mehr im Büro zu sitzen.
Über ihrer Arbeit hatten die Jahreszeiten gewechselt, auf die frühlingshafte Wärme nach Halloween war der Winter gefolgt. Der graue Himmel hatte diesen kalkbleichen Ton, der zum Dezember gehörte, und Gerüche nach brennendem Holz und heißen Brezeln hingen in der Luft.
Spontan machte sie einen Abstecher zur Madison Avenue und kaufte einen Strauß Blumen für Granny Addie. Sie wusste nicht, wie die Blumen hießen, aber sie waren lila und rochen gut.
Donna nahm sie ihr mit beifälligem «Hmmm» an der Tür ab. «Da wird sich Ihre Großmutter freuen», sagte sie. Und: «Gehen Sie ruhig rein.»
«Geht es ihr besser?», fragte Clemmie und war beruhigt, als Donna nickte.
«Jedenfalls so weit besser, dass sie wieder mit mir streiten kann», sagte Donna.
Clemmie lachte. «Das hört sich gut an.»
Donna verschwand auf ihren leisen Gummisohlen in die Küche, um die Blumen ins Wasser zu stellen. Clemmie ging durch das Fernsehzimmer und das winzige Bad, die einmal für ein Hausmädchen gedacht gewesen waren, zu Granny Addies Schlafzimmer. Die helle Tapete und die mit Chintz bezogene Chaiselongue waren noch da, unverändert wie die weiß lackierten Fensterrahmen und Bodenleisten und die Fotos an den Wänden. Es waren keine Familienbilder, sondern Landschaftsaufnahmen von Sonnenuntergängen irgendwo im Westen. Clemmie hatte sie immer irgendwie unstimmig gefunden, sie passten gar nicht zu Granny Addies sonstigem Geschmack. Wo früher Granny Addies Schlittenbett gewesen war, stand jetzt ein Krankenhausbett mit sachlich wirkenden Knöpfen und einem Nachttisch mit schwenkbarer Platte, sodass sie ihre Mahlzeiten im Bett einnehmen
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