Ashton, der Heißbluetige
um nicht zu fallen.
Dann hatte er sie gesehen. Er hatte seine Augen zusammengekniffen, als fiele es ihm schwer, etwas zu erkennen, und sie hatte begriffen, dass er betrunken war, sinnlos betrunken. „Ihr“, hatte er heiser hervorgestoßen. „Verschwindet. Sofort!“
Sie hatte keiner weiteren Ermutigung bedurft. Sie war wie ein Reh vor der Hundemeute geflohen, aber es war ihr nicht gelungen, dem Bild, das er geboten hatte, zu entkommen. Und doch ertappte sie sich immer wieder dabei, wie sie jene Augenblicke noch einmal im Geist durchlebte, als wolle sie die Erinnerung daran in sich lebendig halten.
„Beeilt Euch besser, Kindchen“, sagte Gunna.
Sie waren auf dem Treppenabsatz angekommen, von dem der Flur abging, in dem sich ihr Schlafgemach befand. Unvermittelt hob Gunna die Hand und strich ihr über die Wange. Rhiannon wurde rot, von der freundlichen Geste tief bewegt. „Ihr seid eine gute Zuhörerin, Gunna“, bemerkte sie.
„Und Ihr könnt gut schweigen“, murmelte Gunna. „Nun, Carr will Euch sehen, und das sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Besonders wenn sein Kammerdiener sagt, er habe sich diese letzten Tage in verdrießlicher Stimmung befunden.“
Rhiannon lächelte reuig. „Ich bezweifle, dass Carr meine Abwesenheit überhaupt aufgefallen ist.“
„Darauf würde ich mich nicht verlassen“, erwiderte Gunna, öffnete die Tür zum Korridor und trat mit Rhiannon auf den breiten, lichtdurchfluteten Gang. „Carr muss eine Schönheit wie Euch verehren. Was, glaubt Ihr, hat er mit Euch im Sinn, Kindchen?“
„Ich weiß es nicht“, erwiderte Rhiannon aufrichtig. „Ich habe seit meiner Ankunft hier nicht mit ihm gesprochen.“
„Ha!“ Gunna richtete sich auf, die eine sichtbare Augenbraue erstaunt in die Höhe gezogen. „Der Earl hat sich überhaupt nicht um Euch bemüht?“
„Nicht mit einem Wort.“
„Ein Wunder“, murmelte Gunna. „Warum verlangt Carr dann unbedingt ausgerechnet heute nach Eurer Gesellschaft?“ Sie grub ihre Zähne in ihre schlaff herabhängende Unterlippe, während sie hastig zu Rhiannons Schlafgemach schlurfte. „Warum sollte er wollen, dass Ihr Master Ash in einem solchen Zustand seht? Oder geht es ihm darum, dass Master Ash Euch sieht. . .“
„Wovon sprecht Ihr?“ fragte Rhiannon, die sich beeilen musste, mit ihr Schritt zu halten.
Das eine Auge blitzte auf, als der Alten eine Idee kam. „Carr könnte Euch dazu benutzen wollen, die Macht über seinen . . . spanischen Dolch zurückzuerlangen. Er weiß, Master Ash ist von Euch eingenommen.“
Rhiannons Neugier erstarb. Die alte Frau war letztendlich doch voller romantischer Vorstellungen und erfand Märchen. Sie selbst würde nicht denselben Fehler begehen. „Ash liebt mich nicht.“
Gunna warf ihr einen strafenden Blick zu. „Er wäre Euch nicht zu nahe getreten, wenn er nichts für Euch empfände, Kindchen. “
Ein Bild von Ashs sehnsüchtigem Gesichtsausdruck erschien vor Rhiannons geistigem Auge. Beltanenacht. Woran sie sich erinnerte, mochte es in Wahrheit gar nicht gegeben haben. Sie schüttelte den Kopf, vertrieb das Bild. „Er nimmt sich, wonach auch immer ihm der Sinn steht.“
Gunna zog sie mit sich. „Er steigt mit nicht einer der Frauen auf Wanton's Blush ins Bett. Letzte Nacht erst gibt mir Mrs. Quinton den Schlüssel zu ihrem Zimmer, damit ich ihn Master Ash zustecke, aber er hat ihn mir einfach zurück in die Hand gedrückt“, erwiderte sie ungeduldig. „Da ist etwas an Euch, das ihn anzieht, und ich kann mir vorstellen, dass es ihm genauso wenig gefällt wie Euch.“
Rhiannon würde es nicht noch einmal geschehen lassen. Und doch . . . Gott stehe ihr bei. „Warum seid Ihr so sicher, dass er nicht einfach mit mir herumgetändelt hat?“
Gunna schaute sie mit unverhohlener Empörung an. „Das ist doch ganz leicht“, sagte sie. „Ash Merrick hasst seinen Vater aus tiefstem Herzen. Er würde sich nie mit einer Frau einfach so zum Spaß einlassen, und wenn auch nur aus dem einen Grund, dass sein Vater es jederzeit täte.“
24. Kapitel
Die Menschenmenge, die sich in der Großen Halle für die Unterhaltung bei Tageslicht versammelt hatte, strahlte unterdrückte Erregung aus. Klirrendes Lachen stieg hinter aufgeregt wedelnden Fächern auf. Die neue Erfahrung der letzten Tage, früh aufzustehen, hatte ihren Reiz für die übersättigte Gesellschaft hier noch nicht eingebüßt. Außerdem hinderte sie nichts daran, wenn das Schauspiel einmal vorüber war, wieder in
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