Ashton, der Heißbluetige
Edith davon überzeugt gewesen, dass der dunkle Londoner Rhiannon einfach in seine Arme reißen und mit ihr fortreiten würde, so wie einer dieser Raubritter aus dem Mittelalter. Wenigstens hatte der Mann in seiner düsteren Schönheit und mit der sehnigen Kraft seines angespannten Körpers genauso ausgesehen, wie sie sich diese Ritter immer vorgestellt hatte.
Aber nichts dergleichen war geschehen. Nicht nur hatte er Rhiannon nicht mit sich genommen, nein, er hatte ihr während des restlichen Abends kaum Beachtung geschenkt und an den folgenden Tagen ebenso wenig.
Vielleicht begann sie sich auch einfach in ihrem fortgeschrittenen Alter etwas einzubilden. Bei der Anspannung, unter der sie stand, wäre das auch nicht weiter verwunderlich. Jeden Tag betete sie aufs Neue, dass Squire Watt nicht doch noch seine Meinung änderte und seine Zustimmung zu der
Heirat zurückzog oder dass Phillip es sich nicht doch noch anders überlegte.
Jetzt jedoch konnte sie in ihrer Wachsamkeit nachlassen. Heute Nacht, wenn ganz Fair Badden auf den Beinen sein und die Beltanenacht feiern würde, würden nicht nur ihre eigenen wachsamen Augen, sondern auch die aller anderen Anwesenden auf Rhiannon ruhen. Morgen war der erste Mai mit seinen unschuldigen und - dem Himmel sei Dank-tagsüber stattfindenden Vergnügungen und dann am Nachmittag die Jagd, die Squire Watt als ein besonderes Hochzeitsgeschenk für die Braut veranstaltete, die letzte Jagd der Saison. Rhiannon würde sich niemals eine Jagd entgehen lassen.
Und dann . . . Edith schnitt ein Stück leuchtend rotes Band ab, legte es zu einer üppigen Rosette und nähte diese an Rhiannons Rock. Am Tag danach würden Phillip und Rhiannon heiraten.
Sie seufzte tief auf und zog damit die Aufmerksamkeit ihrer Pflegetochter auf sich. Als diese sie ansah, lächelte sie dem Mädchen liebevoll zu. Und ihrer liebenswürdigen Art entsprechend, erwiderte Rhiannon das Lächeln mit doppelter Herzlichkeit. Edith beugte sich über ihre Näharbeit und nickte glücklich.
Aye, sie durfte in ihrer Wachsamkeit nachlassen.
Es war die Nacht von Beltane. Fair Baddens Marktplatz summte vor Geschäftigkeit. Buden und Wagen, über und über gefüllt mit Spielzeug, Süßigkeiten und billigem Flitterkram, der im Licht der unzähligen Fackeln und Laternen glitzerte, drängten sich auf dem gepflasterten Rechteck. In der Mitte des Platzes war Holz für das traditionelle Beltanefeuer aufgeschichtet worden. Um das noch nicht entzündete Feuer und durch den Wirrwarr angebotener Waren schoben und stießen sich alle möglichen Leute, die einander ohne Unterschied anlächelten.
Gemäß den alten Bräuchen zählten in dieser Nacht für alle Bewohner von Fair Badden weder Amt noch Würden. Höherstehende mischten sich fröhlich unter das einfache Volk. Bauern und Adelige trugen gleichermaßen einfache Kleider, die reich mit Bändern verziert waren. Glöckchen klingelten, Hunde bellten, und die Wimpel an den vier Eckpfosten des offenen Zeltes am anderen Ende des Platzes flatterten lustig im Wind.
Unter dessen Dach stand ein riesiger Tisch, dessen Oberfläche von verkleckertem Bier, Honig, Kuchenkrümeln und Käserinden ganz klebrig war. Darunter lag eine junge Jagdhündin und verputzte heruntergefallene Leckerbissen.
Rhiannon Russell, die Maienkönigin, mehr als nur ein wenig angeheitert, schob ihre bloßen Zehen in Stellas seidenes Fell. Neben ihr stand ihre Hofdame, die - aus Gründen, an die sich Rhiannon nicht mehr länger erinnern konnte, von denen sie aber genau wusste, dass sie ihr vor ein paar Stunden noch ungeheuer komisch erschienen waren - eine braune Kuh mit dem Namen Molly war. Die Hofdame machte einen langen Hals und versuchte die Königskrone von der königlichen Stirn zu schütteln. Mit einem Stirnrunzeln gab Rhiannon dem frechen Ding einen Klaps auf das breite braune Maul und brachte durch diese Bewegung ihre Kleeblütenkrone ins Rutschen.
„König“ Phillip, der zusammengesunken auf dem Thron aus Eichenfässern neben ihr saß, erhob sich gerade weit genug, um die Krone zu fassen zu bekommen und sie aus Mollys Maul zu ziehen. Nachdem er seinen Pflichten als Gemahl zur Genüge nachgekommen war, verfiel er, einmal mehr wieder ins Leere grinsend, in seinen früheren Zustand seliger Trunkenheit.
Rhiannon musterte ihn in umnebelter Zuneigung. Guter alter König Phillip. Pflichtbewusster, gut aussehender, verlässlicher, anspruchsloser, lieber König Phillip. Sie lächelte ihm zu. Er bemerkte es
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