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Asperger - Leben in zwei Welten

Asperger - Leben in zwei Welten

Titel: Asperger - Leben in zwei Welten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Preißmann
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andere, die dies zum Entspannen nach einem stressigen Arbeitstag taten. Ich bin danach eher noch aufgewühlter.
    Jeder Mensch – ob Autist oder Nichtautist – muss individuelle Stressbewältigungsstrategien für sich entwickeln. Seit der Diagnose bemerke ich, dass es für mich nicht sinnvoll ist, hierbei andere Menschen nachzuahmen. Früher versuchte ich beispielsweise, vor dem Fernseher auszuruhen, denn ich sah andere, die dies zum Entspannen nach einem stressigen Arbeitstag taten. Da ich mich aber sehr konzentrieren muss, wenn ich die Handlung in einem Film nachvollziehen will, da ich Gesichter in verschiedenen Szenen kaum wiedererkenne und das Gesprochene vielfach erst überdenken muss, bevor ich es verstehe, ist für mich Fernsehen denkbar ungeeignet, um zu entspannen. Meist bin ich danach eher noch aufgewühlter, denn es ergeben sich so viele neue Fragestellungen. Im Gegensatz dazu habe ich bemerkt, dass ich ruhiger werde, wenn ich am Computer an meinen Klinikskripten schreibe. Dabei sortiere ich fachliche Inhalte zu allen möglichen Themen rund um die Medizin, lese Fachartikel und überlege mir die Zusammenhänge nach meinen Vorstellungen. Hierbei lebe ich ein bisschen in meiner Gedankenwelt und kann mich vom Alltag ablenken, und vermutlich bezeichnet man dies am ehesten als Entspannung.
    Vor der Diagnose habe ich einige Entspannungstechniken intuitiv angewandt, da sie mir gut taten (z. B. Puzzle legen, Fahrrad auseinander- und wieder zusammenbauen, Möbel anmalen, Natur fotografieren, Pflanzen umtopfen). Leider habe ich mich von meinem Umfeld oft davon abhalten lassen, denn man sagte mir, dass man anders entspanne. Heute versuche ich bewusst, meine eigenenEntspannungsverfahren anzuwenden, wenn ich merke, dass ich nicht zur Ruhe komme und gestresst bin.
    Ich wünsche mir mehr Raum für Menschen, die außerhalb der Norm liegen
    Insgesamt wünsche ich mir für den Bereich Arbeit (der für viele Autisten gleichzeitig das Spezialgebiet und damit den Lebensmittelpunkt darstellt), dass trotz der heutzutage notwendigen Leistungsorientierung wieder ein größerer Raum für Menschen geschaffen wird, die außerhalb der Norm liegen. In naher Zukunft wird es sonst immer mehr Randgruppen geben, die von wesentlichen Inhalten dieser Gesellschaft und dieser Kultur (dazu gehören Beruf und Berufstätigkeit und damit die Möglichkeit zu selbstbestimmtem und zielgerichtetem Leben) ausgeschlossen werden. Ich finde es frustrierend, viele autistische Menschen kennen gelernt zu haben, die aufgrund der Rahmenbedingungen keine Möglichkeit sehen, ihre Fähigkeiten sinnvoll in diese Gesellschaft einzubringen. Der Satz einer Freundin aus der Selbsthilfegruppe »ich bin nicht brauchbar für diese Gesellschaft« hat mich sehr nachdenklich und traurig gemacht – besonders, weil diese autistische Freundin ein sehr netter Mensch ist und viele Fähigkeiten besitzt.
    Ich finde es sehr schade, dass die Neigung besteht, einen Menschen mit Behinderung hauptsächlich nach seinen Schwächen zu beurteilen. Dass beispielsweise viele Autisten auch beachtliche Fähigkeiten besitzen, scheint im Arbeitsalltag nicht bemerkt zu werden, da dies häufig von sozialen Fehltritten überschattet wird. Vielleicht sind sogar bestimmte autistische Fähigkeiten die Voraussetzung für manche Leistungen. Um diese bewusst zu nutzen, wäre es notwendig, auch die Schwächen im Berufsalltag zu akzeptieren. Ein Autist wird nur dann in der Lage sein, seine Leistung dauerhaft zu bringen, wenn der Rahmen zumindest einigermaßen passt. Unter Stress- oder gar Mobbingbedingungen wird niemand die ihm eigentlich mögliche Leistung abrufen können, sondern er wird vielmehr durch zu viel Energieverlust ausgelaugt und krank werden.
    Ich finde es sehr schade, dass die Neigung besteht, einen Menschen mit Behinderung hauptsächlich nach seinen Schwächen zu beurteilen.
    Ich freue mich aber auch über die derzeitige Entwicklung innerhalb einiger Bereiche und über das zunehmende Bekennen zur Diagnose durch autistische Menschen in verantwortungsvoller Position und möchte auch andere dazu ermutigen. Ein Autist ist trotz allem nicht so alleine, wie er es die meiste Zeit seines Lebens vermutet. Es gibt sehr viele von uns, und es gibt auch Menschen, die uns verstehen. Ich glaube, dass ein Miteinander unterschiedlicher Menschen möglich und nötig ist und alle Menschen gemeinsam

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