Assassine - Hüterin des Drachenbaums (German Edition)
schlechtes Vorzeichen zu deuten, und sah sich weiter um. Ein breiter Fluss, den die Menschen nur »der große Braune« nannten, schlängelte sich durch die Hauptstadt. Es war der breiteste und gleichzeitig längste Strom Tiros. Der einfallslose Namen, den er von den Menschen erhalten hatte, rührte daher, dass er die fruchtbare, dunkelbraune Erde von überall her mitnahm, um sie später ins Meer zu spülen. Zwei stark befestigte Burgen lagen wie dicke Schildkröten jeweils an den Ein- und Austrittspunkten des Flusses. Sie erkannte große Ballisten und Katapulte auf der Mauer des Forts, das ihr am nächsten lag. Mit diesen massiven Kriegsmaschinen konnten sie jeden ungebetenen Gast einfach zurHölle fahren lassen, ohne dass dieser überhaupt in Schlagdistanz kam. – Je länger sie sich die Kaiserstadt ansah, desto klarer wurde Ari deren Struktur. Der alte Kern war deutlich zu erkennen. Da waren zum einen der Kaiserpalast auf einem Hügel, der direkt neben dem Fluss lag, und die verschiedenen Tempel, die diesen umsäumten. Daran schlossen sich die Villen der Reichen an. Das Patrizierviertel setzte sich auch auf der anderen Seite des Ufers fort. Die Gebäude waren so groß und pompös, dass sie sogar auf die Entfernung aus dem Häusermeer herausstachen. Manche waren von einem so großen Grundstück umgeben, dass sie inmitten der grauen Stadt als grüne Punkte ins Auge fielen. Die bürgerlichen Häuser, die sich an die der oberen Gesellschaftsschicht anschlossen, bildeten einen Puffer zu den Armenvierteln, die alle am Rande der Stadt lagen. Durch das rasante Wachstum der letzten Jahre war ein großer Teil der Armenbehausungen außerhalb der dicken Stadtmauer entstanden. Im Falle eines Angriffs wurden die Bewohner hinter die Befestigungen geholt, aber viel Platz war dann nicht und die Versorgung für diese Masse an Menschen mehr als fraglich.
Der Wind drehte und die zweifelhaften Gerüche der Zivilisation wehten zu Ari hinauf. Es stank nach Fäkalien und Verwesung. Die Kaiserstadt war krank, darüber konnte ihr kolossales Aussehen auch nicht mehr hinwegtäuschen. Ein finsterer Schatten legte sich über Aris Gesichtszüge. Sie spürte das Widernatürliche, das nun in der Metropole wohnte, und die Verderbtheit ihrer Einwohner. Hier gab es viel Unkraut und schlechte Erde, die dem Drachenbaum Tiro Luft und Nahrung nahmen. Die Assassine wusste nun, dass sie hier richtig war. Ihre ersten Aufgaben lagen deutlich vor ihr. Sie betrachtete noch einmal eingehend den Kaiserpalast. Ein dunkler Klotz, auf dessen Mauern die Banner und Wimpel des Kaisers im Wind flatterten. Der Palastberg hob ihn ein wenig über die restliche Stadt. Zehn schlanke Türme, die verschieden hoch waren, ragten wie drohende Finger in den Himmel. Die unterschiedlichen Farbtöne der verbauten Steine verrieten Ari, dass sie erst viel später nach Fertigstellung des Hauptbaus angefügt worden waren. Ihre Struktur war auch nicht auf eine Belagerung oder einen Kampf ausgerichtet, dazu waren sie zu zerbrechlich und zu schlecht zu verteidigen. Ein wenig erinnerte der dunkle Klotz an einen Igel, der sich einige seiner Stacheln abgebrochen hatte, ein Tier, das man besser nicht reizte, wenn man nur ein kleines Insekt war.
»Hineinzukommen wird nicht einfach sein und vom Rauskommen wollen wir gar nicht reden«, dachte Ari bei sich, als sie von einem Falkenschrei aus ihren Gedanken gerissen wurde. Über ihr kreiste einer der stolzen Raubvögel. Sie lächelte, denn an den Flugbewegungen konnte sie erkennen, dass es Mirx war. Um nicht aufzufallen, reiste er in der kleineren Gestalt. Er drehte noch eine Runde und schoss dann auf sie zu. Sie streckte den Arm aus und ihrtierischer Gefährte landete sanft auf ihrem Handgelenk. Die Wiedersehensfreude war auf beiden Seiten sehr groß. Mirx’ Schreie gingen in ein wildes Gequieke über, immer wieder lief er aufgeregt über ihre Arme und Schultern. Ari lachte und versuchte ihren Freund zu packen, damit er still hielt und sie ihn streicheln konnte. Tief sog sie die kühle Luft ein und atmete langsam und entspannt aus. Seit Langem wogte wieder ein Gefühl des Glücks in ihr, denn die Reise war beschwerlich und entbehrungsreich gewesen. Sie hatte es tunlichst vermieden, mit irgendjemand in Kontakt zu treten, und sich von überwiegend nicht sehr schmackhaften Kleintieren und Wurzeln ernährt. Andere Lagerfeuer und Herbergen hatte sie weiträumig umgangen.
Nachdem sich nun die erste Euphorie legte, gab Ari Mirx zu verstehen, dass er
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