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Assassini

Assassini

Titel: Assassini Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Gifford
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büßen.
    Es war das kleine Mädchen unter den Fluggästen, die dem Moralischen jene Gestalt verlieh, die Elizabeth erkennen konnte und sie zu seinem Opfer machte. Das kleine Mädchen in der Reihe vor ihr, sechs oder sieben Jahre alt, das über die Lehne hinweg spähte und Elizabeth im dunklen Passagierraum beobachtete. Vielleicht waren sie, abgesehen von der Crew, die beiden einzigen an Bord der Maschine, die nicht schliefen. Das kleine Mädchen mit den großen, dunklen, schimmernden Augen, der winzigen breiten Nase, einem sehr ernsten Ausdruck um den Mund und einem blau-goldenen Schleifchen um den Pferdeschwanz: Es war mitten in der Nacht, irgendwo über dem Atlantik, und Elizabeth spürte die Augen der Kleinen auf sich ruhen.
    Sie lächelte ihr ins ernste Gesicht, in das plötzlich Leben kam. Das Mädchen bettete das Kinn auf die Oberkante der Kopfstütze. »Ich heiße Daphne. Mein Daddy sagt Daffy zu mir. Ich muß flüstern, weil ich meine Mom nicht wecken möchte. Wie heißt du?«
    »Elizabeth.«
    »Meine Mom hat einen leichten Schlaf. Darum muß ich immer leise und artig sein. Warum schläfst du nicht?«
    »Ich habe nachgedacht.«
    »Ich auch.« Der kleine Kopf nickte wissend. »Ich hab’ über meine Freunde nachgedacht. Ich werde sie morgen alle treffen. Worüber hast du denn nachgedacht?«
    »Über Freunde, genau wie du.«
    »Triffst du sie auch morgen?«
    »Ich fürchte, nein.«
    »Wohnst du in Rom?«
    »Ja. Du auch?«
    »Eigentlich wohnen wir in Chicago, aber mein Daddy arbeitet so oft in Rom, daß wir da auch ein Haus haben. Wo wohnst du denn in Rom?«
    »In der Via Veneto.«
    Das kleine Gesicht hellte sich auf. »Ich weiß, wo das ist. Via Veneto. Hast du eine Tochter? Sie und ich könnten ja zusammen spielen …«
    »Oh, tut mir leid, ich habe … ich möchte …«
    »Was? Was möchtest du denn, Elizabeth? Möchtest du gern eine kleine Tochter?«
    »Ja, Daphne. Ich hätte gern eine kleine Tochter. Eine wie dich.«
    »Ehrlich?« Sie kicherte hinter vorgehaltener Hand.
    »Ehrlich.«
    »Du kannst Daffy zu mir sagen, wenn du willst.«
    Und diese paar Worte hatten genügt. Der Moralische. Es wurde eine lange Nacht für Schwester Elizabeth.
    Sie hatte in diesen endlosen Stunden das Gefühl, als würde Vals Geist auf sie einstürmen. Irgend etwas quälte sie: Val versuchte, ihr etwas zu sagen, aber es drang nicht recht zu Elizabeth durch. Sie setzte die Kopfhörer auf und schob eine Kassette nach der anderen in ihren Walkman. Billie Holiday, Stan Getz, Astrud Gilberto, Moody Blues, Jefferson Airplane, Mozarts Jupitersymphonie, Bachs Cembalokonzert in F und C, gespielt von Gustav Leonhardt; eine Kassette nach der anderen wanderte aus ihrer Reisetasche in den Walkman und wieder zurück, während ihr Bleistift über die Seiten ihres Terminkalenders huschte und ihr Geist irgendwo auf der Suche nach Val umherirrte.
    Val. Elizabeth bemühte sich verzweifelt, ihre Signale zu empfangen, die von einem unendlich weit entfernten Sender ausgestrahlt zu werden schienen, aber sie schaffte es nicht. Valentine versuchte, sie an irgend etwas zu erinnern. Es würde ihr schon noch einfallen, sagte sie sich, es mußte ihr einfallen.
    Das alles war schon schlimm genug, aber als sie ihre Gedanken Ben Driskill zuwandte, wurde alles nur noch schlimmer. Sie kam sich schäbig vor, daß sie auf eine solche Weise Abschied von ihm genommen hatte. Sie haßte sich für ihr Benehmen, ärgerte sich über den Streit. Denn in Wahrheit hatte Ben ja recht gehabt, vollkommen recht, und sie fragte sich, warum sie alles vermasselt hatte.
    Sie hatte ihm doch helfen wollen, hatte mit ihm gemeinsam herausfinden wollen, was Val entdeckt hatte, warum sie ermordet worden war; die ganze Geschichte war einerseits zwar tragisch, andererseits aber so aufregend für sie gewesen, daß es ihr sogar geholfen hatte – Gott möge ihr verzeihen –, besser mit Vals Tod fertig zu werden: Als sie und Ben den pensionierten Polizisten an der trostlosen, kalten, novemberlichen Küste aufgestöbert hatten, zum Beispiel, als sie die Wahrheit über den vor so langer Zeit ermordeten Priester erfahren hatten, oder als sie und Ben und Father Dunn bis tief in die Nacht Mordtheorien entworfen hatten …
    Warum also hatte alles ein so unschönes Ende nehmen müssen, nur weil sie, Elizabeth, die Kirche so frömmlerisch in Schutz genommen hatte? Was war an diesem Nachmittag und Abend nur in sie gefahren? Vielleicht war es einfach die schiere Angst gewesen, die sie überfallen

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