Assassini
angerufen und um meinen Rückruf gebeten. Ich ging auf mein Zimmer, wusch mir das Gesicht, überprüfte den Sitz des Verbands am Rücken, mixte mir einen Gin Tonic, spülte damit ein paar Schmerztabletten hinunter und trat auf den Balkon. Die ersten Schatten der Dämmerung senkten sich über das Meer und den Platz vor dem Hotel, in dessen Mitte sich eine riesenhafte Statue erhob. Von der Ramli Station drangen die Geräusche der Straßenbahnen und Busse zu mir herüber, und noch immer wehte ein kühler Wind vom Meer. Nach einer Weile flammten auf den Straßen und im Hafen die Lampen auf; zu meiner Linken schimmerten die Lichter eines Jachtclubs über das Wasser. Warum hatte Richter mich belogen? Eine einfache Antwort, und vielleicht hätte ich die Toten ruhen lassen, vielleicht hätte ich sogar aufgegeben …
Denn noch immer war ich dem Geheimnis nicht nahe genug gekommen, als daß es gefährlich werden konnte. Noch immer befand ich mich in einer Grauzone relativer Sicherheit. Noch immer konnte ich sagen: zum Teufel damit, flieg zurück nach Hause, laß die Finger davon. Was hatte ich denn schon vorzuweisen? Ein altes Foto und einen verlogenen Deutschen und sonst nichts. Die Reise nach Ägypten hatte bisher nicht viel eingebracht. Sicher, ich konnte zu Richter gehen und ihn wegen des Fotos zur Rede stellen. Ich konnte aus der Grauzone weiter in die Dunkelheit vordringen, vielleicht sogar bis ins Zentrum, bis zu jenem Schwarzen Loch, das meine Schwester verschluckt hatte. Vielleicht waren dort die Antworten auf all die Fragen. Aber wollte ich sie wirklich um jeden Preis erfahren? Würden sie mir die Ruhe wiedergeben, das Glück? Und meiner kleinen Schwester den ewigen Frieden? Ich rief Schwester Lorraine an.
Sie sagte, ihr sei etwas eingefallen, das vielleicht von Interesse für mich wäre, und erkundigte sich nach dem Fortgang meiner Nachforschungen. Ich unterbrach sie: »Schwester, könnten Sie mir ein gutes Restaurant empfehlen? Und würden Sie einem armen gestrandeten Pilger beim Abendessen Gesellschaft leisten?
Ohne Ihre Hilfe hätte ich eine sehr weite Reise umsonst gemacht.« Das war, wie ich vermutete, sowieso der Fall, aber ich war nicht in der Stimmung, den Abend nur in Gesellschaft einer Flasche Bombay Gin und den Erinnerungen an Silberhaar und seinem im Mondlicht funkelnden Messer zu verbringen. Gott sei Dank nahm sie meine Einladung an. Sie nannte mir den Namen eines Restaurants und beschrieb mir den Weg dorthin.
Das Tikka Grill befand sich in unmittelbarer Nähe des El Kashafa el Baharia Yacht Club, dessen Lichter ich vom Balkon meines Hotelzimmers aus gesehen hatte. Der Speisesaal lag in der ersten Etage. Von unserem Tisch aus konnten wir die weißen Yachten sehen; das Licht, das von den Decks erstrahlte, spielte auf dem Wasser. Es war wie eine Szene aus einem Humphrey-Bogart-Film. Leise Hintergrundmusik, und Schwester Lorraine lächelte mich über die flackernden Kerzen hinweg an. Ich hatte das Gefühl, daß alle Frauen, die ich im Laufe meines Lebens kennengelernt hatte, Nonnen gewesen waren. Ich sagte das Schwester Lorraine, und sie legte den Kopf ein wenig schief und erwiderte: »Vielleicht schützt Gott Sie auf diese Weise vor dem Bösen in Ihrem Innern.«
»Mir wäre es lieber, Gott würde sich über das Böse in meinem Innern nicht so sehr den Kopf zerbrechen.«
»Schämen Sie sich«, sagte sie. »Gott ist überall und in uns allen.« Sie trank einen Schluck französischen Weißwein und bestellte sich, als der Ober kam, ein Fisch-Kebab. Beim Essen unterhielten wir uns, und ich spürte, welch entspannende Wirkung das auf mich hatte, zumal das Essen und der Wein ausgezeichnet und das Lokal zu dieser Jahreszeit nicht von Touristen überfüllt war. Ich erzählte ihr, daß Richter zwar höflich gewesen sei, mir aber nichts über Val erzählt habe, was ich nicht schon vorher gewußt hätte.
Sie legte ihr Besteck auf den Teller. »Mister Driskill, ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie eine so weite Reise ohne guten Grund unternommen haben. Ich bin kein Detektiv, aber alle Welt weiß, daß Ihre Schwester ermordet wurde. Sie sind hierhergekommen, weil Ihre Schwester … Ich habe das Gefühl, daß Sie sich entschlossen haben – wie sagt man auf Englisch? Den Stier in die eigenen Hände zu nehmen?«
»Die Sache in die Hände zu nehmen. Den Stier packt man bei den Hörnern.«
»Ah. Na, egal. Darf ich offen mit Ihnen reden?«
»Wenn es um meine Schwester und mich ging, hat das bis jetzt noch jeder
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