Assassini
unbeantwortbare, ungebetene Fragen. Aber Simon war aus Rom nach Paris gekommen …
Bruder Leo redete bedächtig, leise, rieb sich über die Wangen, die vom kalten Wind rauh und gerötet waren, strich den Kranz borstiger weißer Haare glatt, der seine Glatze umgab, nur damit der Wind sie wieder zerzauste.
Dann kam jene letzte, entscheidende Nacht gegen Ende des bitterkalten Winters 1944.
Wieder sollte ein Mann getötet werden.
Aber die Nazis wußten nichts darüber. Auch nicht die Resistance. Keine Menschenseele wußte, daß ein sehr wichtiger Mann getötet werden sollte – nur die Assassini.
Zum Wohl der Kirche. Zur Rettung der Kirche.
Simon führte das Kommando. Es war das riskanteste und schwierigste Unternehmen, das die Gruppe je gewagt hatte. Es erforderte mehr Vorbereitungs- und Planungsarbeiten als je zuvor, mehr Transportmöglichkeiten, bei denen man auf die Hilfe der Resistance angewiesen war, und mehr Ausrüstungsgegenstände, die man ebenfalls von der Resistance bekam.
Dynamit. Zwei Maschinengewehre. Handgranaten.
Dieses Unternehmen würde den Lauf der Geschichte ändern und die Kirche durch einen einzigen, verwegenen Coup retten.
Die Männer mußten sich in einer Holzfällerhütte verschanzen, die auf einer Hügelflanke lag, von der aus man einen Teil des Schienenstranges überschauen konnte, der an dieser Stelle durch dicht bewaldete Hänge vor Blicken von außen geschützt war. Im Zug reiste ein bedeutender Mann nach Paris, um dort Gespräche mit hochrangigen Nazis zu führen. Gerüchte besagten, daß auch Reichsmarschall Göring an dieser Gesprächsrunde teilnahm.
Sie wollten den Zug in die Luft jagen. Und wenn der Mann, auf den sie es abgesehen hatten, bei der Explosion nicht ums Leben kam, wollten sie ihn erschießen – und jeden, der sich ihnen in den Weg stellte.
Doch es ging alles schief.
Die Deutschen wußten Bescheid. Der bedeutende Mann war rechtzeitig gewarnt worden. Jemand hatte es ihm, hatte es den Deutschen verraten. Jemand aus den Reihen der Assassini.
»Der große Mann war nicht mal im Zug«, sagte Bruder Leo. »Wir waren verraten und verkauft worden. Es war eine schreckliche Katastrophe, ein Gemetzel, das nur einige wenige von uns überlebten. Viele wurden schon an der Bahnlinie getötet, andere wurden verfolgt und später in Paris enttarnt und ermordet, nachdem ein Mann in der Stadt eingetroffen war, den wir ›Collector‹ nannten und der die Aufgabe hatte, die Überlebenden aufzuspüren … Tja«, sagte er, schüttelte den Kopf und wischte sich mit der Hand über den Mund, »das alles war vor langer Zeit. Simon wußte, daß alles vorbei war, aber er wußte auch, wer uns verraten hatte. Wir alle hatten schreckliche Angst, fürchteten um unser Leben. Simon wollte sich um uns kümmern – wir wußten nicht wie, aber wir wußten, er würde Wort halten. Wir glaubten an ihn, vertrauten ihm … und er hat sich unser angenommen, hat uns gesagt, was wir tun mußten, und dann ging er, um sich mit dem Verräter zu treffen … Christos, Christos war derjenige … er hatte schon immer mehr auf Seiten der Nazis gestanden, er war selbst einer … Der Holländer, Little Sal und ich sind Simon in jener Nacht gefolgt, wir wollten an Ort und Stelle sein, falls er uns brauchte, wir wußten, daß Christos immer eine Pistole bei sich trug.«
Die Nacht war kalt; ein wütender Wind peitschte Wolken von Schnee und Eiskristallen vor sich her. Februar 1944. Ein kleiner, von Unkraut überwucherter Friedhof in einem schäbigen Viertel von Paris, neben einer halb verfallenen Kirche. Ein geöffneter Fensterladen wurde vom Wind auf und zu geschlagen; es hörte sich an wie Pistolenschüsse. Die Grabsteine waren von Eis überzogen. Verdörrte braune Grasbüschel ragten aus zugefrorenen Pfützen. Mäuse, halbtot vor Hunger und Kälte, huschten zwischen den Füßen der Männer umher.
Simon und Christos standen sich zwischen den Grabsteinen gegenüber.
Leo, der Holländer und Little Sal duckten sich in den Schatten hinter dem Zaun, der den Friedhof umgab. Leo schlotterte vor Angst und Kälte; Little Sal murmelte leise Gebete: Sein Leben als Priester hatte einige unerwartete Wendungen genommen und ihn bis hierher, zu diesem einsamen, nächtlichen Friedhof geführt, umgeben von Kälte und Dunkelheit und Furcht.
Christos beschwor Simon, daß er niemanden verraten habe, daß Simon gar nicht begreife, was geschehen sei. Ja, es müsse einen Verräter gegeben haben, aber er, Christos, wisse nicht, wer dieser
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