Assassini
vergleichsweise wenig. Reichtum, Macht, Einfluß – so viel stand auf dem Spiel. Das nächste Konklave dauerte ein Jahr. 1305 wurde Klemens V. in Lyon gekrönt. Aber er wagte nicht, in das von Kriegen und Fehden erschütterte Rom zurückzukehren. Statt dessen ließ er sich in Avignon nieder.
Auf diese Weise ging das Papsttum nach Frankreich über. Es wurde zu einem Mittel der französischen Politik und weltlicher, als es je zuvor gewesen ist – die Kirche war nun wirklich zu einem politischen Wesen geworden, das spirituell vom Weg abgekommen war. Rom war Petrus’ Bischofssitz, und die Päpste seine Nachfolger, nun aber hatte die Kirche Rom den Rücken zugewandt, hatte es aufgegeben. Und die Heilige Stadt war in Verfall geraten. Sie war von Mördern, Schmugglern, Entführern, Dieben geplündert und geschändet worden. Die Kirchen wurden entweiht; der Marmor, die Skulpturen, die Gemälde – alles wurde geraubt. Um 1350 kamen an einem bestimmten Tag fünfzigtausend Pilger nach Rom, um an der Gruft des heiligen Petrus zu beten. Sie fanden Kühe vor, die das Gras abweideten, das in der Apsis wuchs, und der Boden war bedeckt mit Dung.
Johannes XXII., Benedikt XII., Klemens VI …. Klemens hat Avignon für achtzigtausend Goldflorint gekauft! Er ließ den päpstlichen Palast errichten, und die Kardinale stopften ihre prunkvollen Villen mit Kunstgegenständen voll und lebten in Saus und Braus. Sie waren weltliche Prinzen … Als Urban V. starb, betrug sein Privatvermögen zweihunderttausend Goldflorint. Die Kirche war nicht mehr die Kirche des heiligen Petrus, sie war von innen zerfressen worden. Sie war verrottet und verfault wegen der Gier nach Luxus und Reichtum, von der Lasterhaftigkeit, der Dekadenz und der Weltlichkeit; der Materialismus hatte triumphiert. Die Kirche führte nun ein Leben, als gäbe es keine Ewigkeit mehr, kein Jüngstes Gericht, keine Erlösung, kein Seelenheil, nur noch die ewige Leere und die unendliche Dunkelheit.«
Die Stimme des Kardinals war zu einem Flüstern herabgesunken, und er verstummte, senkte das Kinn auf die Brust. Calixtus wagte nicht, etwas zu sagen und damit den Zauber zu lösen. Er wußte nicht, wohin D’Ambrizzis Darlegungen führen sollten, aber er stand wie unter einem Bann. Er beobachtete, wie der Kardinal sich aus seiner Erstarrung löste, die Hand nach einem Becher und einer Karaffe ausstreckte, die auf einem silbernen Tablett standen. Bedächtig schenkte er ein Glas Wasser ein und reichte es Calixtus, der sich die Lippen befeuchtete. Die Medikamente hatten bei ihm ein ständiges Durstgefühl zur Folge, wie D’Ambrizzi wußte.
»Petrarca«, sagte D’Ambrizzi, »hat Avignon als Festung der Qualen bezeichnet, als Wohnsitz des Hasses, als Lasterhöhle, als Kloake dieser Welt, als Schule der Irrlehren, als Tempel der Ketzerei, als verderbtes, sündenhaftes Babylon, als Wiege der Lügen, als Jauchegrube.«
Calixtus murmelte: »Die babylonische Gefangenschaft.« D’Ambrizzi nickte; seine Lippen waren trocken, und er hatte die Augen weit aufgerissen. »Petrarca hat außerdem geschrieben, Avignon sei das Heim des Weines, der Weiber, der Gesänge und der Priester, die soffen und fraßen und hurten, als würden sie nur zwei Göttern dienen: der Völlerei und der Unzucht. Von der heiligen Katharina von Siena ist der Ausspruch überliefert, daß sie am Gestank der Hölle von Avignon fast erstickt wäre.«
»Ich weiß diese Geschichtsstunde wirklich sehr zu schätzen, Giacomo, aber warum erzählen Sie mir das alles?«
»Weil möglicherweise die Zeit drängt, Heiligkeit«, erwiderte D’Ambrizzi mit plötzlich rauher Stimme. »Und das beziehe ich nicht nur auf ihre Krankheit. Die babylonische Gefangenschaft … sie bahnt sich wieder an. Und Sie, papa, stehen einer Kirche vor, die sich selbst in diese Gefangenschaft führt. Einer Kirche, die sich willentlich, ja bereitwillig in einen Sündenpfuhl verwandelt hat!« D’Ambrizzi sah das plötzliche Funkeln in Calixtus’ Augen; alle Mattheit war verflogen. »Jetzt ist es an Ihnen, die Kirche wieder in Sicherheit zu bringen, zurück auf den rechten Weg … sie wieder in den Dienst der Menschheit und Gottes zu stellen.« Er grinste, zeigte die gelben Zähne. »Solange Sie noch Zeit haben, Salvatore.«
»Ich verstehe nicht …«
»Ich werde es Ihnen erklären.«
Der Papst schluckte einen blutdrucksenkenden Beta-Blocker. Ohne sich dessen recht bewußt zu sein, zog er den florentinischen Dolch aus der Tasche und drehte ihn langsam
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