Assassini
erinnern, wo sie sich befanden. Ich kannte die Antwort: an einem Ort, den schon ungezählte Generationen ihrer Vorfahren bewohnt hatten.
Als wir Kinder waren, haben Val und ich fest daran geglaubt, daß dieses Geräusch, das aus den Wänden zu dringen schien, von einem Gespenst verursacht würde, dessen Geschichte wir sogar ziemlich gut kannten. Vor vielen, vielen Jahren hatte ein Junge einen englischen Offizier hinter den Frontlinien getötet und war dann nach wilder Flucht entkommen. Ein vor langer Zeit verstorbener Ben Driskill hatte ihn in einer der Dachstuben seines Hauses versteckt, doch eine Woche darauf war ein britischer Suchtrupp zum Anwesen der Driskills gekommen und hatte das Haus durchforscht. Sie hatten den Jungen gefunden, furchtsam in einer dunklen Ecke der Mansarde zusammengekauert, halb tot von einer Lungenentzündung, und ihn auf der Stelle schuldig gesprochen. Die Soldaten des Trupps hatten dem längst verstorbenen Ben Driskill erklärt, daß sie ihn neben dem Jungen aufhängen würden, als abschreckendes Beispiel für die Bewohner der ganzen Gegend, eine Drohung, die Bens Frau Hannah auf den Plan gerufen hatte. Sie war mit einer Donnerbüchse in der Tür erschienen und hatte gerufen, daß sie ein paar Unzen heißes Blei in die Brust jenes Rotrocks jagen werde, der diese Drohung ausgesprochen hatte, falls er sich nicht mit dem einen Gefangenen zufriedengebe und sich schleunigst aus dem Staub mache. Der Brite verbeugte sich, ermahnte Ben, es sich in Zukunft zweimal zu überlegen, ob er einem Feind des geliebten König George Hilfe und Unterkunft gewähre, und war mit dem Mörder im Schlepptau davonmarschiert. Sie hatten den jungen Burschen in den Obstgarten geführt und ihn dort mit einem Stück Seil, das den Driskills gehörte, am Ast eines Apfelbaums, der den Driskills gehörte, aufgehängt. Kurz nachdem sie davongezogen waren, hatte Ben den Toten vom Seil geschnitten und ihn in der Nähe des Baumes begraben. Sein Grab war immer noch zu sehen; wir hatten oft dort gespielt. Und wir hatten mit großen Augen fasziniert der Geschichte vom Tod dieses tapferen Rebellen gelauscht, dessen Geist fortan in unseren Mauern spukte.
Ich stieg die Treppe hinauf, an deren Fuß ich gestanden hatte, aber niemand – weder das Gespenst noch die Feldmäuse, noch meine Schwester – gab Antwort. Ich hatte plötzlich das Bild meiner Mutter vor Augen, wie sie in einem ihrer langen, weiten, spitzenbesetzten Nachthemden auf dem Flur stand, die Hand ausgestreckt, als wollte sie versuchen, mich über eine große Entfernung hinweg zu berühren. Wie lange war das jetzt schon her? Ihre Lippen formten Worte, die ich damals gehört haben mußte, die ich mir aber nicht mehr ins Gedächtnis rufen konnte … Warum konnte, ich mich nicht mehr entsinnen, was sie gesagt hatte, wo ich doch den Duft ihres Kölnisch Wassers und ihres Puders so deutlich in Erinnerung hatte? Und warum sah ihr Gesicht in den Schatten des Korridors so verschwommen aus? War sie jung? Oder schon ergraut? Wie alt war ich gewesen, als sie auf mich zugekommen war, die Hand ausgestreckt, und irgend etwas gesagt hatte, versucht hatte, mir irgend etwas zu erklären?
Ich stieg die Treppe wieder hinunter, griff nach einem Schirm und ging nach draußen. Der Regen wurde jetzt vom Wind schräg vor sich her gepeitscht; die Schwaden schimmerten geisterhaft im Licht der Außenbeleuchtung. Ich schlug den Kragen meines Trenchcoats hoch und wandte mich in Richtung der kleinen Unterführung, die sich zwischen zwei Flügeln des Hauses befand, und ging geduckt hindurch. Der Wind rüttelte an den Fenstern und den Dachrinnen über mir, fegte immer größere, dichtere Massen von Schneeregen vor sich her, die sich allmählich in Eis verwandelten und die schon bald das Fallrohr der Dachrinne verstopfen würden. Manche Dinge änderten sich einfach nie.
Ich überquerte den matschigen braunen Rasen, auf dem wir früher Krocket und Badminton gespielt hatten. Die Lichter, die aus den Fenstern des Long Room fielen, stachen wie gelbe Finger durch die Dunkelheit; wie Finger, die den Weg zur Kapelle zu weisen schienen.
Natürlich hatten wir unsere eigene kleine Kirche. Mein Großvater hatte sie in den zwanziger Jahren errichten lassen, um wenigstens einen der verrückten Wünsche zu erfüllen, die meine Großmutter sich so eisern in den Kopf gesetzt hatte. Die Kapelle war ›im Stil der Zeit‹ erbaut worden, wie es in den Reiseführern hieß, aus Feldstein und Ziegeln und mit
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