Assassini
Ausgangspunkt war, um im Gespräch mit Turner irgendwie weiter zu kommen. »Sie ist heute erst eingetroffen. Sie hat mich in New York angerufen und mich gebeten, hierherzukommen. Sie wollte mit mir reden.« Ich schüttelte den Kopf. »Als ich kam, war sie nicht da. Ich bin davon ausgegangen, daß sie sich verspätet hatte oder daß sie noch irgendwelche Besorgungen machen wollte. Ich bin in die Stadt gefahren, um einen Happen zu essen, dann wieder hierher, habe mich umgesehen und sie gefunden. Das ist alles.«
Turner schneuzte sich in ein rotes Taschentuch und rieb sich die Nase. »Wenn das mal keine Grippe wird«, murmelte er. »Es ist seltsam. Mich hat sie auch angerufen. Heute nachmittag. Hat sie Ihnen das gesagt?«
»Nein. Was hat sie denn gewollt?«
»Tja, das ist ja das Verrückte. Sie würden nie drauf kommen. Sie hat mich gefragt, was ich über den Priester weiß, der sich in eurem Obstgarten erhängt hat, neunzehnsechsunddreißig oder siebenunddreißig oder wann das gewesen ist. Ich war damals im ersten Jahr hier im Polizeidienst. Etwa zu der Zeit, als Sie geboren wurden. Der Selbstmord wurde als einer jener rätselhaften Fälle betrachtet, wie sie halt schon mal vorkommen. Ein Priester erhängt sich im Obstgarten der Driskills. Armes Schwein. Val hat mir nicht gesagt, aus welchem Grund sie sich danach erkundigte.
Sie wollte nur wissen, ob wir eine Akte darüber haben.« Er schüttelte den Kopf und rieb sich über die grauen Stoppeln auf seinem Kinn.
»Und? Habt ihr eine Akte?«
»Verflixt noch mal, Ben, ich weiß es nicht. Ich habe ihr gesagt, der Teufel soll mich holen, wenn ich je eine Akte über den Selbstmord gesehen hätte, aber ich habe ihr versprochen, mal in den alten Kisten herumzuwühlen, die im Keller des Reviers stehen. Immerhin könnte es ja eine Akte geben. Aber die Sache liegt sehr lange zurück. Entsprechende Unterlagen sind möglicherweise schon vor Jahren vernichtet worden.« Er schneuzte sich wieder. »Ich habe mir die Sache durch den Kopf gehen lassen, als Val und ich unser Gespräch beendet hatten. Der alte Rupert Norwich ist mir in diesem Zusammenhang eingefallen. Er war damals Deputy Chief. War so was wie mein Lehrmeister. Anschließend war er fünfundzwanzig Jahre lang Polizeichef – Mann, Sie müssen sich doch noch an den alten Rupe erinnern können, Ben.«
»Er hat mir meinen ersten Strafzettel wegen Geschwindigkeitsübertretung verpaßt«, sagte ich.
»Tja, Rupe ist jetzt über achtzig, wohnt unten an der Küste, in der Gegend von Seabright. Ist immer noch ganz gut beieinander. Ich habe mich gefragt, ob ich Rupe wegen dieser Sache mal anrufen sollte … aber dafür dürfte es jetzt wohl keinen Grund mehr geben, verdammt noch mal. Wir wissen ja nicht einmal, was Schwester Val mit dieser Akte anfangen wollte, sofern sie existiert.« Er seufzte.
»Warum suchen Sie nicht trotzdem danach?« wollte ich wissen. »Sie kennen Val; sie hat nie etwas getan, ohne einen Grund dafür zu haben.«
»Naja, könnte nichts schaden.« Er musterte mich von oben bis unten. »Sie müssen sich hundeelend fühlen, Ben. So ein verdammter Schock …«
»Es geht schon. Wissen Sie, Sam, so wie ich die Sache sehe – seitdem Val dieses eine Jahr in El Salvador verbracht hat, war ihre Uhr abgelaufen – sie hatte lange Zeit einen guten Schutzengel. Und der hat sie heute abend im Stich gelassen.«
»Da haben Sie wohl recht. Sie hat in gewisser Weise ein Leben am Abgrund geführt.« Turner trat ans Fenster. »Ach, verdammt, es ist eine Schande, Ben. Eine gottverfluchte Schande.« Er hielt inne.
»Oh, sieht so aus, als käme Ihr Vater nach Hause. Himmel noch mal, jemand muß es ihm sagen … Ich hasse so eine Scheiße.« Seine Augen waren blutunterlaufen, und sein nasses Haar klebte am Schädel. Er nahm seine Brille ab und rieb die Gläser mit dem schmutzigen Taschentuch trocken. »Möchten Sie, daß ich es ihm sage, Ben?«
»Nein, Sam«, erwiderte ich. »Das ist ein Job für Superman.«
Mein Vater.
Sie wären sehr schnell pleite, würden Sie Ihr Geld darauf setzen, daß irgend etwas meinen Vater schockieren könnte. Oder ihn verängstigen oder aus der Fassung bringen oder gar zerbrechen. Er war einfach nicht der Typ, den eine psychische Belastung, die andere normalerweise in die Knie zwingt, zu erschüttern vermochte. Sein Leben war für jemanden, der wie er von der Verschwiegenheit geradezu besessen ist, außerordentlich bewegt gewesen. Er war vierundsiebzig Jahre alt und wußte sehr genau, daß
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