Assassini
aufgeknüpft hatte, und ich fragte mich, wo zum Teufel, meine Schwester stecken mochte.
Ich ging ein Stück zurück und blieb vor dem kleinen Gotteshaus stehen, das jetzt von Schnee bedeckt war und wie ein kleines Zauberschloß aus einem Märchen aussah. Der Wind hatte sich gedreht, pfiff nun über den Bach hinweg und ließ die Zweige der Bäume rascheln.
Ich stieg ein zweites Mal die glatten Stufen zur Eingangstür der Kapelle hinunter, öffnete sie und starrte in die feuchte, kalte, dunkle Stille. Die kleine Kerze war erlöschen. Ich ließ die Tür offen, um das spärliche Licht von draußen hereinfallen zu lassen, tastete an der Wand nach den Lichtschaltern und knipste den ersten an, den ich erwischte. Der Eingang der Kapelle wurde in trübes Licht getaucht; alles wirkte grau und vorsintflutlich. Ich kam mir wie ein Taucher in den Tiefen einer Unterwasser-Ruine vor. Ich drehte den zweiten Schalter, und ein zweites Paar schummriger Lampen erfüllte das Innere der Kapelle mit Dämmerlicht. Ich hörte die trockenen, ledernen Flügelschläge von einer oder zwei Fledermäusen irgendwo über mir in der Dunkelheit.
Es gab nur zehn Kirchenbänke, die durch den Mittelgang getrennt waren. Ich machte zwei zögernde Schritte nach vorn, rief ihren Namen. Nie war ein Raum so leer gewesen. Die eine Silbe, Val, hallte von den Wänden und den Bleiglasfenstern wider. Ich hörte das leise Plätschern von Wassertropfen, die durch ein paar lecke Stellen im Dach drangen. Dach und Turm waren schon wieder reparaturbedürftig.
Dann sah ich, zwischen der ersten und zweiten Reihe, etwas Rotes schimmern. Ein Ärmel aus roter Wolle mit blauem Lederbesatz; er gehörte zu einer Jacke. Ich erkannte sie sofort. Es war meine alte Schuljacke mit dem Emblem von St. Augustin. Auf der linken Brustseite mußten die ineinander verschlungenen Buchstaben S A zu sehen sein. Die Jacke hatte auf dem Fußboden der Kapelle nichts zu suchen.
In den St.-Calixtus-Katakomben, tief unter der Via Appia, befindet sich die Gruft, aus der Papst Paschalis I. im neunten Jahrhundert die Gebeine der heiligen Cäcilia hatte bergen lassen. Er bettete ihre sterblichen Überreste in einen Sarkophag aus weißem Marmor um, der unter dem Altar der Kirche der heiligen Cäcilia in Trastevere steht, einem Stadtteil Roms. Vor vielen Jahren hatte ich die Katakomben des Calixtus besichtigt und war irgendwo aus dem dunklen Stollen in einen See aus Licht eingetaucht, in dem der Körper eines Mädchens lag, so still und friedlich wie im Schlaf. Für einen winzigen Augenblick hatte ich das Gefühl, ein Eindringling zu sein, der sie in ihrer Ruhe gestört hatte. Aber dann sah ich sie natürlich als das, was sie war: als das Werk des Bildhauers Stefano Maderna, der den Körper Cäcilias so geschaffen hatte, wie er Kardinal Sfondrati im Traum erschienen war. Es war ein außerordentlich wirklichkeitsnahes Kunstwerk, und als ich nun auf den Körper der Frau hinunterblickte, der in unserer Kapelle lag, hatte ich das Gefühl, als würde nun ich, wie Jahrhunderte zuvor der Kardinal, in einem Traum gefangen sein.
Sie lag auf der Seite, in verkrümmter Haltung. Sie war an jener Stelle zu Boden gestürzt, wo sie gekniet und gebetet hatte. Sie lag ganz still da, wie Madernas Skulptur, ganz ruhig und friedlich; ihr Gesicht war dem Boden zugewandt, und das eine Auge, das ich sehen konnte, war geschlossen. Ich berührte ihre Hand, den Rosenkranz in ihren kalten Fingern. Sie hatte meine alte Jacke übergezogen, als sie vom Haus herüber zur Kapelle gegangen war. Die Wolle war feucht. Ich hielt ihre Hand. Die Finger waren kalt und starr.
Meine Schwester Val, der immer tapfere, kleine Soldat, immer von jenem Mut beseelt, den ich nicht besaß und nie besitzen würde, war tot.
Ich weiß nicht, wie lange ich dort gekniet habe. Dann streckte ich die Hand aus, um ihr Gesicht zu berühren, das nun so leer war, bar ihrer Seele, ihrem wachen Geist, und ich sah sie als kleines Mädchen, hörte die glückliche, beschwingte Fröhlichkeit ihres Lachens, und als ich ihr Haar streichelte, spürte ich das verkrustete Blut, spürte, wie das versengte Haar bei der Berührung zu Staub zerfiel, sah die blutverschmierte Wunde, wo die Kugel eingedrungen war. Sie hatte hier im Gebet gekniet, und irgend jemand hatte eine Waffe, nur Zentimeter von ihrem Kopf entfernt, abgedrückt. Ich war sicher, daß sie nichts gespürt hatte. Vielleicht – aus einem unerklärlichen Grund – hatte sie ihrem Mörder vertraut.
Meine Hand
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