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Assassini

Assassini

Titel: Assassini Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Gifford
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niedergebranntes Feuer aus Ästen und Kiefernzapfen.
    Es dauerte nicht lange, bis ich die Stelle gefunden hatte: Unter einem Felsvorsprung sah ich einen schwarzen, feuchten Aschehaufen, der halb von Schnee bedeckt war, den jemand darübergetreten hatte. Irgend jemand, der hier in der vergangenen Nacht ein Feuer entfacht und sich daran gewärmt hatte. Ich blickte die gut achtzig Meter bis zum Ferienhaus hinunter. Zwischen den Baumstämmen, im trüben grauen Dunst des Spätnachmittags, war das große Panoramafenster deutlich zu sehen: ein gelb leuchtendes Rechteck. Der Rauch stieg kräuselnd aus den Schornsteinen. Der Wind kam von hinten und blies mir Schneeflocken unter meinen Kragen. Ich schwitzte vom Aufstieg.
    Jemand hatte hier die Nacht über an einem Lagerfeuer gekauert, sich gewärmt, gewartet – aber worauf? Um mich herum waren nur verschneiter Wald und tief unten unser Ferienhaus.
    Ich begann, nach Spuren zu suchen. Aus welcher Richtung war der Unbekannte gekommen, und wohin war er gegangen? Ich stieß auf ein paar Abdrücke von Schuhen im Schnee, die nach rechts wegführten, aber schon nach einigen Metern immer unkenntlicher wurden und schließlich nicht mehr zu sehen waren, weil der Wind sie verweht und frisch gefallener Schnee sie zugedeckt hatte. Eine andere Spur ließ darauf schließen, daß der Unbekannte von weiter oben, aus Richtung See, heruntergekommen war. Ich folgte auch diesen Fußabdrücken und mußte feststellen, daß diese zweite Spur ebenfalls immer undeutlicher wurde. Am Hügelkamm angelangt, sah ich ein Stück voraus die zugefrorene Oberfläche des Sees. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Der Wind war klirrend kalt und beißend. Meine Augen schwammen in Tränen, und meine Gesichtshaut war taub vor Kälte. Ich wandte mich um und stieg den Hang wieder hinab, im tiefen Schnee zwischen den Bäumen.
    Das Tageslicht schwand jetzt rasch.
    Ich mußte trotzdem noch einen Baum fällen, mochte sich jemand hier oben herumtreiben oder nicht, mochte er mich beobachten oder nicht. Welcher normale Mensch kam auf eine derart verrückte Idee, in einer so einsamen Gegend, so weit weg von der Straße, von jeder Straße, eine Nacht in dieser schneidenden Kälte zu verbringen? Kein normaler Mensch, lautete selbstverständlich die Antwort. Allein der Gedanke war absurd. Doch wer immer die Nacht unter dem Felsvorsprung verbracht hatte: Er hatte sie nur dort verbringen wollen und nirgendwo anders. Aber warum? Und wer war dieser Jemand? Hatte er aus irgendwelchen Gründen meinen Vater beobachten wollen? Oder etwa mich? Hatte man nach mir Ausschau gehalten? Auf meine Ankunft gewartet?
    Ich kämpfte erfolgreich gegen die Versuchung an, einen Blick über die Schulter zu werfen, und suchte mir eine der kleinen Tannen aus, nahm das Beil, um die untersten Äste abzuhacken, und machte mich dann mit der Säge an die Arbeit. Ich rechnete fast damit, plötzlich hinter mir das leise Knirschen von Schnee zu vernehmen und dann einen Schlag auf den Hinterkopf zu spüren … und dann nichts mehr. Aber nichts geschah. Ich hatte wohl zuviel Phantasie.
    Als der Baum schließlich am Boden lag, erhob ich mich und blickte mich um, zerrte den Baum zu dem Felsvorsprung, lockerte den dicken wollenen Schal am Hals und setzte mich auf den Stein, den der unbekannte Camper in der letzten Nacht dicht ans Feuer gerollt und als Sitzplatz benutzt hatte. Unter mir, in der sich verdichtenden Dunkelheit, erstrahlte das Panoramafenster immer heller. Und mein Vater lauschte nach wie vor seiner Musik, versuchte, mir den Unverwüstlichen vorzuspielen, dachte an seinen Weihnachtsbaum und philosophierte über seine Vorstellungen, was das Herz der Finsternis betraf.
    Ich blieb ziemlich lange auf dem Stein sitzen und dachte über jenes dunkle Land nach, in dem ich gewesen zu sein glaubte, was mein Vater jedoch bestritten hatte. Daß er selbst dort gewesen war – an diesem verborgensten, finstersten Ort, wo es keine Hoffnung mehr gab, keine Vernunft –, hatte ich nie bezweifelt. Aber warum hatte er gesagt, daß auch meine Mutter dort gewesen sei? Was hatte meine Mutter, die ein Leben in Reichtum und Luxus und Bequemlichkeit geführt hatte, darüber wissen können? Viel, wie ich bald erkannte. Sehr viel.
    Meine Mutter hatte sich selbst getötet. Gleich zweimal. Zum einen dadurch, daß sie ihren Kummer in Alkohol ertränkt hatte, und zum anderen, als sie von der Galerie unseres Hauses gefallen war … sich hatte fallen lassen. Vermutlich war sie tiefer

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