Assassin's Creed Bd. 5 - Forsaken - Verlassen
sie irgendwie. War das auch mit Mutter der Fall? Diese Frage beschäftigte mich sehr.
„Es tut mir leid, Haytham“, wiederholte sie.
„Es ist schon gut, Mutter.“
„Nein … ich meine, du wirst mit Mr Birch nach Europa gehen.“
„Aber ich werde hier gebraucht, bei dir. Ich muss auf dich achtgeben.“
Sie lachte dünn. „Mamas kleiner Soldat, ja?“ Und dabei maß sie mich mit einem seltsam forschenden Blick. Ich wusste genau, in welche Richtung ihre Gedanken gingen. Zurück zu den Geschehnissen auf der Treppe. Sie sah mich, wie ich eine Klinge in die Augenhöhle des maskierten Angreifers rammte.
Und dann riss sie ihren Blick von mir los, und ich spürte ihren Schmerz fast körperlich.
„Miss Davy und Emily geben auf mich acht, Haytham. Wenn unser Haus am Queen Anne’s Square wieder hergerichtet ist, werden wir dorthin zurückziehen, und ich kann mehr Personal beschäftigen. Nein, ich bin es, die auf dich achtgeben sollte, und ich habe Mr Birch die Verantwortung für die Finanzen und sonstigen Angelegenheiten unserer Familie übertragen und ihn zu deinem Vormund ernannt, damit du ordentlich betreut wirst. Dein Vater hätte es so gewollt.“
Verwundert betrachtete sie den Vorhang, als versuche sie sich zu erinnern, warum er zugezogen war. „Soweit ich weiß, wollte Mr Birch mit dir über euren sofortigen Aufbruch zum Festland sprechen.“
„Das hat er auch getan, aber …“
„Gut.“ Sie schaute mich an. Und wieder lag etwas in ihrem Blick, das mich verunsicherte und bezwang. Ich sah ein, dass sie nicht mehr die Mutter war, die ich gekannt hatte. Oder war ich nicht mehr der Sohn, den sie gekannt hatte?
„So ist es am besten, Haytham.“
„Aber, Mutter …“
Sie sah mich an und dann rasch wieder weg.
„Du begleitest Mr Birch, und damit hat es sich“, erklärte sie streng. Ihr Blick irrte wieder zu den Vorhängen. Ich richtete meine Augen Hilfe suchend auf Miss Davy, aber sie gewährte mir keine, schenkte mir nur ein mitfühlendes Lächeln.
Es war still im Zimmer, kein Laut war zu hören außer dem Klipp-Klapp von Hufen draußen auf der Straße, aus einer Welt, die sich weiterdrehte, ungeachtet der Tatsache, dass meine gerade in alle ihre Bestandteile zerlegt wurde.
„Du kannst gehen, Haytham“, sagte Mutter mit einer Handbewegung.
Vorher – also vor dem Überfall – hatte sie mich nie zu sich „bestellt“. Und sie hatte mich auch nie so weggeschickt. Früher entließ sie mich nie, ohne mir nicht wenigstens einen Kuss auf die Wange zu geben, und sie sagte mir mindestens einmal am Tag, dass sie mich liebte.
Als ich aufstand, fiel mir auf, dass sie kein Wort über das Geschehen auf der Treppe in jener Nacht verloren hatte. Auch hatte sie mir nicht dafür gedankt, dass ich ihr das Leben gerettet hatte. An der Tür blieb ich stehen und drehte mich zu ihr um, und ich fragte mich, ob sie sich wünschte, dass ich es nicht getan hätte.
IV
Mr Birch begleitete mich zur Beisetzung, eine kleine, informelle Trauerfeier in derselben Kapelle, in der wir auch von Edith Abschied genommen hatten, mit fast derselben Anzahl von Gästen: das Personal, der alte Mr Fayling und ein paar Mitarbeiter meines Vaters, mit denen Mr Birch im Anschluss sprach. Er stellte mich einem von ihnen vor, Mr Simpkin, ein Mann, den ich auf Mitte dreißig schätzte, der sich, wie man mir sagte, um die Belange der Familie kümmern werde. Er verbeugte sich leicht und bedachte mich mit einem Blick, in dem Hilflosigkeit und Mitleid miteinander rangen.
„Ich werde für Eure Mutter sorgen, solange Ihr in Europa seid, Master Haytham“, versicherte er mir.
Da wurde mir klar, dass ich wirklich ging. Dass ich in dieser Sache keine Wahl hatte, kein Mitspracherecht. Nun, eine andere Wahl hätte ich wohl noch – ich könnte weglaufen. Aber wegzulaufen scheint mir keine echte Alternative zu sein.
Wir fuhren in Kutschen nach Hause. Dort fiel mein Blick auf Betty, die mich mit einem matten Lächeln ansah. Die mich betreffende Neuigkeit machte offenbar die Runde. Als ich sie fragte, was sie vorhabe, erzählte sie mir, dass Mr Digweed eine neue Anstellung für sie gefunden habe. Als sie mich anschaute, schimmerten Tränen in ihren Augen, und nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, setzte ich mich an meinen Schreibtisch, um mit schwerem Herzen in mein Tagebuch zu schreiben.
11. Dezember 1735
I
Morgen früh brechen wir zu unserer Europareise auf. Es erstaunt mich, wie wenig Vorbereitungen dafür zu treffen sind. Es ist, als
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