Assassin's Creed: Der geheime Kreuzzug (German Edition)
überwältigt und sich dann Bouchart vorgeknöpft. Aber es sollte nicht sein. Stattdessen musste er zusehen, wie Bouchart und der Wächter davongingen und den Bereich verlassen zurückließen. Altaïr kam aus seinem Versteck hervor, trat vor die Gitterwand und fand eine abgesperrte Tür. Mit flinken Fingern machte er sich am Schloss zu schaffen. Dann war die Tür offen, er trat hindurch und schritt auf die Zellentür des Orakels zu. Ihr Geschrei kam ihm jetzt noch lauter und beunruhigender vor. Altaïr schluckte. Er fürchtete sich vor keinem Menschen. Aber dies war kein Mensch. Dies war anscheinend etwas ganz anderes. Er musste sich zusammenreißen, während er sich über das zweite Schloss hermachte. Als die Tür kreischend in den rostigen Angeln aufschwang, hämmerte sein Herz.
Die Zelle des Orakels war riesig wie ein Festsaal, und zwar wie ein großer Festsaal, über dem der Gestank von Tod und Fäulnis hing. Dunst kräuselte sich hier und da, und stellenweise wucherte Pflanzenwerk zwischen den Pfeilern, als dränge die Außenwelt herein, um diesen Raum eines Tages ganz für sich zu beanspruchen.
Nachdem seine Augen sich an die Düsternis gewöhnt hatten, hielt er nach dem Orakel Ausschau, sah jedoch nichts, sondern hörte nach wie vor nur ihr infernalisches Geschrei. Es ließ ihm die Haare auf den Armen zu Berge stehen, und er musste ein Schaudern unterdrücken, als er weiter hineintappte in die … Zelle?
Ihm kam dieser Raum eher vor wie die Höhle des Orakels.
Plötzlich herrschte Stille. Altaïr erstarrte. Er wechselte das Schwert von einer Hand in die andere, sein Blick durchforstete den dunklen, schwach erhellten Raum.
„Heidenblut“, erklang da eine Stimme – ein rauer Singsang, wie ein Echo aus einem Albtraum. Altaïr fuhr herum in die Richtung, aus der die Stimme kam, doch als sie abermals erklang, schien sie sich von der Stelle bewegt zu haben. „Ich kenne deinen Namen, Sünder“, krächzte sie, „ich weiß, warum du hier bist. Gott führt meine Klauen. Gott schenkt mir die Kraft, dir die Knochen zu brechen.“
Altaïr blieb gerade noch Zeit, sich verwundert zu fragen: Hat sie wirklich Klauen gesagt … ? , als das Orakel auch schon auftauchte. Wie ein Derwisch wirbelte es ihm aus der Dunkelheit entgegen, kreischend und von schwarzen Haaren förmlich umpeitscht. Tatsächlich hatte die Gestalt keine richtigen Klauen, sondern lange, scharfe Fingernägel, die allerdings nicht minder tödlich waren. Altaïr hörte, wie sie dicht an seinem Gesicht vorbeipfiffen. Er sprang zurück. Dann duckte sich die Gestalt wie eine Katze, musterte ihn und knurrte. Altaïr war überrascht – er hatte eine alte Hexe erwartet, aber diese Frau … sie machte den Eindruck, als sei sie von edlem Geblüt. Natürlich! Das war die Frau, von der Barnabas ihm erzählt hatte, die Frau, die einst in der Burg gelebt hatte. Sie war jung und musste sehr schön gewesen sein. Aber was immer die Templer ihr angetan hatten, die Gefangenschaft hatte sie offenbar in den Wahnsinn getrieben. Das wurde ihm klar, als sie grinste und auf einmal gar nicht mehr wie von edlem Geblüt wirkte, sondern Reihen fauler Zähne entblößte und eine Zunge, die ihr aus dem Mund zu fallen drohte. Kichernd schlug sie abermals nach ihm.
Sie kämpften. Das Orakel griff ihn blindlings an, schwang die Nägel nach ihm und brachte ihm mehrere blutende Wunden bei. Er versuchte die Frau auf Distanz zu halten, unternahm Vorstöße und Konterangriffe, bis es ihm schließlich gelang, sie zu übermannen und an eine Säule zu drücken. Verzweifelt bemühte er sich sie festzuhalten, weil er vernünftig mit ihr reden wollte, aber sie wand sich wie ein wildes Tier, auch dann noch, als er sie zu Boden stieß, sich rittlings auf sie hockte und ihr die Klinge an den Hals hielt, während sie um sich zu schlagen versuchte und vor sich hinbrabbelte: „Ehre sei Gott. Ich bin sein Werkzeug. Ich bin Gottes Henker. Ich fürchte weder Schmerz noch Tod.“
„Ihr wart einst eine Zypriotin“, sprach Altaïr auf sie ein und hielt sie nach Kräften fest. „Eine respektierte Adelige. Welche Geheimnisse habt Ihr diesen Teufeln verraten?“
Wusste sie, dass sie ihr eigenes Volk verraten hatte, indem sie den Templern half? Besaß sie noch genug Verstand, um das zu begreifen?
„Mein Elend hat Sinn und Zweck“, krächzte sie und lag dann plötzlich ganz still. „Gott befiehlt mir, sein Werkzeug zu sein.“
Nein, dachte Altaïr. Sie besaß nicht mehr genug Verstand.
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