Assassin's Creed: Der geheime Kreuzzug (German Edition)
aus einem bestimmten Grund berichtete. Dass ich aus einem Grund, der sich mir noch nicht erschloss, auserwählt worden war, diese Geschichten zu hören.
Wenn er keine Geschichten erzählte, saß Altaïr vor sich hin- brütend inmitten seiner Bücher und Erinnerungen, und blickte mitunter stundenlang zum Fenster seines Turmes hinaus. Auch jetzt würde er dort sitzen, dachte ich und beschattete meine Augen mit der Hand, um zum Turm emporzuschauen, ohne jedoch mehr zu sehen als von der Sonne gebleichten Stein.
„Er gibt uns eine Audienz?“, unterbrach Maffeo meine Gedanken.
„Nein, heute nicht“, antwortete ich und wies stattdessen auf einen Turm zu unserer Rechten. „Wir gehen da hinauf.“
Maffeos Miene verfinsterte sich. Der Wehrturm war einer der höchsten der Zitadelle, und zu erreichen war er nur über eine Reihe schwindelerregender Leitern, von denen die meisten aussahen, als bedürften sie dringend einer Reparatur. Aber ich blieb hartnäckig, stopfte meinen Überrock in den Gürtel und führte Maffeo erst ein Stockwerk in die Höhe, dann ein weiteres und schließlich bis ganz nach oben. Von dort schauten wir über die Landschaft. Meilenweit erstreckte sich felsig schroffes Gelände. Flüsse durchzogen es wie Adern. Hier und da lag eine vereinzelte Siedlung. Unser Blick schweifte über Masyaf und die steilen Abhänge, die hinabreichten bis zu den Häusern, Stallungen und Märkten des Dorfes, das sich in der Tiefe ausbreitete, umzäunt von hölzernen Palisaden.
„Wie hoch sind wir?“, fragte Maffeo. Er sah ein bisschen grün um die Nase aus, wie er so dastand, weit, weit über dem Boden und zerzaust vom Wind.
„Über achtzig Meter“, klärte ich ihn auf. „So sind die Assassinen außerhalb der Reichweite feindlicher Bogenschützen, können sie ihrerseits aber selbst mit Pfeilhageln und anderem eindecken. Hier … “
Ich zeigte auf die Öffnungen ringsum. „Durch diese Pechnasen könnten sie Steine auf ihre Feinde hinunterwerfen oder sie mit Öl übergießen, mithilfe dieser … “
Hölzerne Plattformen ragten ins Leere hinaus, und wir bewegten uns auf eine davon zu, wobei wir uns links und rechts an senkrechten Stützen festhielten und uns nach vorn beugten, damit wir nach unten schauen konnten. Direkt unter uns ging der Turm in die senkrecht abfallende Felswand über. Darunter lag der glitzernde Fluss.
Maffeo wich alles Blut aus dem Gesicht. Er trat zurück auf den sicheren Boden des Turms. Ich tat es ihm lachend nach (und war insgeheim auch froh darüber, denn um der Wahrheit Genüge zu tun, so war auch mir ein wenig flau im Bauch und etwas schwindlig geworden).
„Und warum hast du mich nur auf den Turm heraufgeführt?“, wollte Maffeo wissen.
„Hier beginnt meine Geschichte“, erklärte ich. „In vielerlei Hinsicht. Von hier aus sah der Wachtposten die Invasoren zuerst.“
„Die Invasoren?“
„Ja. Salah Al’dins Armee. Er rückte an, um Masyaf zu belagern und die Assassinen zu bezwingen. Es war vor achtzig Jahren, an einem strahlenden Augusttag. An einem Tag gerade wie dem heutigen … “
2
Zuerst sah der Wachtposten die Vögel.
Eine Armee, die in Bewegung ist, lockt Aasfresser an, hauptsächlich der geflügelten Art, die sich auf sämtliche Reste stürzen, die zurückgelassen werden: Essen, Abfall, Kadaver, sowohl die von Pferden als auch solche von Menschen. Als Nächstes sah er den Staub. Und dann einen riesigen, dunklen Fleck, der am Horizont auftauchte, langsam vorwärtskroch und alles in Sichtweite überflutete. Eine Armee vereinnahmt, zerreißt und zerstört die Landschaft, sie ist wie ein gigantisches, hungriges Tier, das alles verschlingt, was ihm in die Quere kommt, und meistens genügte der bloße Anblick – wie Salah Al’din sehr wohl wusste – , um den Feind zur Kapitulation zu bewegen.
Diesmal jedoch nicht. Denn diesmal waren die Assassinen der Feind.
Der Sarazenenführer hatte für diesen Feldzug eine ansehnliche Streitmacht auf die Beine gestellt. Zehntausend Mann, Fußsoldaten, Reiter und Gefolge. Damit wollte er die Assassinen zermalmen, die bereits zwei Anschläge auf sein Leben verübt hatten, und ein dritter würde ihnen sicher nicht mehr misslingen. So hatte nun er das Heft in die Hand genommen und seine Armee in das Gebirge des Djabal an-Nusayriyah geführt und zu den dortigen neun Zitadellen der Assassinen.
In Masyaf waren Meldungen eingegangen, dass Salah Al’dins Männer plündernd durchs Land zögen, aber keine der Festungen
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