Assassin's Creed: Revelations - Die Offenbarung (German Edition)
nicht ein Versuch zu ändern – oder zu garantieren – , was ich gesehen habe?
Wie naiv es doch ist zu glauben, es könnte auf jede Frage nur eine einzige Antwort geben. Auf jedes Rätsel. Dass es ein einziges, göttliches Licht gibt, das alles beherrscht. Es heißt, es sei ein Licht, das Wahrheit und Liebe beschert. Ich sage, es ist ein Licht, das uns blendet – und uns zwingt, in Unwissenheit umherzustolpern. Ich sehne mich nach dem Tag, an dem die Menschen sich abwenden werden von unsichtbaren Ungeheuern und wieder zu einem rationaleren Blick auf die Welt finden. Doch diese neuen Religionen sind so bequem – und sie drohen mit solch furchtbaren Strafen, sollte man sie ablehnen – , dass ich fürchte, die Angst wird uns festhalten lassen an dem, was in Wahrheit die größte Lüge ist, die je verbreitet wurde …
Der alte Mann saß eine Weile lang still da und wusste nicht, was er empfinden sollte – Hoffnung oder Verzweiflung? Vielleicht spürte er weder das eine noch das andere. Vielleicht war er aus beidem herausgewachsen, oder er hatte beides überdauert. Die Stille des großen Raums und seine Düsternis schützten ihn wie die Arme einer Mutter. Trotzdem konnte er sich seiner Vergangenheit nicht verschließen.
Er schob seine Schreibmaterialien von sich und zog das Kästchen herab, legte beide Hände darauf, behütete es – wovor?
Dann schien ihm, als stünde Al Mualim vor ihm. Sein alter Mentor. Sein alter Verräter. Den er letztlich entlarvt und vernichtet hatte. Doch als der Mann sprach, tat er es drohend und voller Macht.
„Viel Weisheit birgt viel Leid. Und wer das Wissen mehrt, der mehrt das Leid.“ Der Geist lehnte sich vor und sprach jetzt in eindringlichem Flüsterton dicht an Altaïrs Ohr. „Vernichte ihn! Zerstöre ihn, wie du es gesagt hast!“
„Ich … ich kann nicht!“
Da erklang eine andere Stimme. Eine, die ihm ins Herz fuhr, als er sich nach ihr umwandte. Al Mualim war verschwunden. Aber wo war sie? Er konnte sie nicht sehen!
„Du wandelst auf einem schmalen Grat, Altaïr“, sagte Maria Thorpe. Die Stimme war jung und fest. Wie sie es gewesen war, als er sie kennengelernt hatte. Vor siebzig Jahren.
„Ich wurde von Neugier beherrscht, Maria. So schrecklich dieses Artefakt auch ist, es birgt doch auch Wunder. Ich möchte es gern, so gut ich kann, verstehen lernen.“
„Was sagt es dir? Was siehst du?“
„Seltsame Visionen und Botschaften. Von denen, die davor kamen, über ihren Aufstieg und ihren Niedergang … “
„Und was ist mit uns? Wo stehen wir?“
„Wir sind Glieder in einer Kette, Maria.“
„Aber was geschieht mit uns, Altaïr? Mit unserer Familie? Was sagt der Apfel?“
„Wer waren die, die davor kamen?“, entgegnete Altaïr. „Was führte sie hierher? Vor wie langer Zeit?“ Aber er sprach eher zu sich selbst als zu Maria, die nun wieder in seine Gedanken einbrach: „Befreie dich von diesem Ding!“
„Das ist meine Pflicht, Maria“, sagte Altaïr traurig zu seiner Frau.
Da schrie sie, ganz schrecklich. Und dann rasselte es in ihrer Kehle, als sie starb.
„Kraft, Altaïr.“ Ein Flüstern.
„Maria! Wo … wo bist du?“ Und in den großen Raum hinein schrie er: „Wo ist sie?!“ Aber es antwortete ihm nur sein eigenes Echo.
Dann folgte eine dritte Stimme, selbst besorgt, obwohl sie ihn zu beruhigen versuchte.
„Vater … sie ist tot. Weißt du nicht mehr? Sie ist tot“, sagte Darim.
Ein verzweifeltes Aufheulen. „Wo ist meine Frau?“
„Es ist fünfundzwanzig Jahre her, du alter Narr! Sie ist tot!“, brüllte sein Sohn ihn wütend an.
„Lass mich in Ruhe! Lass mich arbeiten!“
Leiser jetzt, sanfter: „Vater … was ist das für ein Ort? Welchem Zweck dient er?“
„Das ist eine Bibliothek. Und ein Archiv. Um all das, was ich gelernt und entdeckt habe, sicher zu verwahren. Alles, was sie mir gezeigt haben.“
„Was haben sie dir gezeigt, Vater?“ Eine Pause. „Was geschah in Alamut, bevor die Mongolen kamen? Was hast du dort gefunden?“
Und dann herrschte Stille, und die Stille legte sich über Altaïr wie ein warmer Himmel, in den er hineinsprach: „Ich kenne jetzt ihren Zweck. Ihre Geheimnisse sind mein. Ihre Beweggründe klar. Doch diese Botschaft ist nicht für mich bestimmt. Sie ist für einen anderen bestimmt.“
Er blickte auf den kleinen Kasten, der vor ihm auf dem Schreibtisch stand. Ich werde dieses elende Ding nie wieder anfassen. Ich werde bald von dieser Welt gehen. Meine Zeit ist gekommen. Alle Stunden
Weitere Kostenlose Bücher