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Astragalus

Titel: Astragalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albertine Sarrazin
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zu ergreifen. Bei der Mutter wie bei Pierre hatte ich ständig »Darf ich bitte« oder »Könnte ich« auf den Lippen, ich war darauf bedacht, nichts Heimliches zu tun. Dann fiel mir plötzlich wieder ein, dass ich frei war, und ich wurde ungeschickt und ausfallend. Ich behielt die verängstigte Miene, und wenn ich mir Mühe gab, patzte ich, verrieten mich alte Ängste und eine übermäßige natürliche Schamlosigkeit … Außerdem weiß ich nicht viel über das Milieu, in das mich Julien eingeführt hat. Im Bau hatte ich mehr mit Eierdieben als mit echten Verbrechern zu tun. Um Julien zu gefallen und ihm Ehre zu machen, indem ich seinen Freunden gefiel, versteckte ich meine Unwissenheit unter intelligentem Schweigen; oder ich bemühte mich, freizügig und gebildet zu wirken, sprach wie die Heldinnen der Série Noire oder besonders affektiert. Aber egal wie, ich machte mich lächerlich.
    Hier im Krankenhaus bin ich Schulanfängerin, wie sicher die meisten Kranken in diesem Saal; sich die Knochen brechen wird bestimmt nicht zur Gewohnheit wie vielleicht eine chronische Krankheit. Der Astragalus wird also auch meine Patzer tarnen können.
    Ich denke, denke im Eiltempo, seit die Oberschwester das Laken wieder über meinen Hintern gezogen hat, nachdem sie sehr langsam, sehr mühsam den Inhalt einer großen Spritze hineingepresst hatte. Ich massiere die Einstichstelle, um den neuen Schmerz zu verteilen – fühlt sich an, als hätte man Bleiklumpen hineingegossen.
    Allmählich beruhigt sich der Wirbel in meinem Schädel, verliert an Tempo wie das Lotterierad auf dem Jahrmarkt. Jetzt drehen sich die Bilder nur noch ganz langsam, zögern, ehe sie ganz zum Stehen kommen, während sich Wände und Decke in qualvoller Unschärfe entfernen. Die Luft um mich herum erstarrt und klatscht in dicken, haltlosen Klumpen auf den Fliesenboden. Ein schwarzes Tuch quillt aus meinen Lidern … Aufpassen, ich darf die Augen nicht zumachen, sonst bin ich verloren. Ich will nicht einschlafen, ich will bis zum Letzten sehen. Wird man meinen Bruch unter Vollnarkose reparieren oder bin ich schon unempfindlich genug? Ich spüre gar nichts mehr … Ich werde mich erkundigen.
    Meine Nachbarin zur Linken ist eine lächelnde alte Dame, die bei der Ankunft der Oberschwester aufgewacht ist und mich seitdem mit freundlichem Interesse beobachtet.
    »Madame …«
    »Ja?«
    »Verzeihen Sie, dass ich Sie störe, aber …«
    Ich wähle den Ton »wohlerzogenes junges Mädchen«. Aber irgendwas stimmt hier nicht. Es ist nicht die Schüchternheit, die mir die Kehle zuschnürt. Ich höre mich nicht sprechen, meine Zunge ist riesig und unbeweglich, sie versperrt den Wörtern den Weg, und die Wörter selbst verflüchtigen sich, sobald ich sie zusammengesammelt habe. Ich versuche mich zu erinnern, was ich sagen wollte, aber alles löst sich auf, ich …
    »Psst!«, sagt die Frau. »Nicht reden. Ruhen Sie sich aus, schließen Sie die Augen. Die Anästhesie ist einfacher, wenn Sie entspannt hinüberkommen …«
    Man wird mich also noch einschläfern. Gut, weil ich überzeugt bin, dass es nicht wehtun wird, sammle ich meine Kräfte und kämpfe. Ich klammere mich an ein Bild – da, die Zeichnung auf der Streichholzschachtel zum Beispiel. Eine Provinz. Oh, oh, ich kann nicht mehr lesen, auch gut, raten wir eben. Im Bau hieß jede Gruppe nach einer Provinz, vier Gruppen, die Streichholzköpfe, die Mädchenköpfe, die … Nein, ich schlafe nicht.

5
    »… Dann habe ich ihn mit treuherzigem Blick angesehen und mit einem Schluchzen in der Stimme gesagt: ›Doktor, das ist brutaaaal, ein echtes Martyrium …‹ Prompt hat er die Schiene abnehmen und einen Bügel einsetzen lassen. Zwar nicht so hoch wie bei den anderen, aber man kann sich trotzdem dahinter verkriechen. Julien, mein Schatz …«
    Ich fühle mich so leicht, ich sprudle förmlich, wenn es erlaubt wäre, zöge ich mein Bein aus dem Gips – ja, den Fuß beugen und einmal kräftig ziehen, wie an einem Stiefel.
    »Du kannst dir nicht vorstellen, wie mir das in den letzten zwei Wochen zu schaffen gemacht hat … Ach, Julien, du bist da.«
    »Meine Süße … Aber wie sollte ich denn ahnen, dass es so schlimm ist? Nini hat mir am Telefon gesagt, dass sie dir einen Streckverband gemacht haben und dass alles in Ordnung ist. Dabei wirst du operiert, und ich weiß von nichts!«
    Julien sitzt ganz dicht neben meinem Kopf, ein Ellbogen auf dem Nachttisch, eine Hand unter dem Laken an meiner Hüfte.
    »Aber Nini war schon

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