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Astragalus

Titel: Astragalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albertine Sarrazin
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nicht indiskret sein, aber … War das Ihre Mutter, die brünette Dame, die Sie begleitet hat? Sie sieht Ihnen sehr ähnlich.«
    »Das ist meine Schwester«, sage ich bedächtig. »Aber für mich ist sie wie eine Mutter, sie hat mich großgezogen.«
    Da ich nicht genau weiß, ob ich Waise oder ausgesetzt bin, ob meine Eltern krank oder weit weg sind, beschließe ich, auf meine Schwester zu warten, um Genaueres über unsere familiären Verhältnisse zu erfahren, was ich mit größerer Sicherheit weitergeben kann. Bei der Aufnahme habe ich meinen richtigen Vornamen und mein Alter genannt – den Vornamen, weil ich ihn mag, und das Alter, weil ich fürchte, dass die Ärzte es sowieso anhand meines Skeletts herausfinden; ich wachse seit einem Halbdutzend Jahren nicht mehr, aber ich war frühreif, vielleicht bin ich inzwischen spät dran und die Gelenkknorpel sind erst in ein paar Jahren ausgewachsen.
    Ob Nini heute Abend wiederkommt? Julien hat mir versprochen, sie am Nachmittag anzurufen. Das, was zwischen ihm und mir ist, lässt sich nicht per Telefon übermitteln, aber ich hoffe trotzdem … ich weiß nicht genau, was … Später, wenn ich wieder laufe, wenn unser Laufen zu zweit normal sein wird – ein Junge, der auf der Straße den Arm oder die Hand eines Mädchens hält –, werde ich die Straßen mit Julien kennenlernen, werde erfahren, wohin sie führen. Ich versinke in meinen Kissen und schließe die Augen. Auch die anderen Kranken ruhen im erstaunlichen Kokon ihrer von Bügeln deformierten Betten, aus dem manchmal am Fußende eine Schnur auftaucht, die über eine Rolle führt und an der ein Gewicht hängt. Sie rühren sich nicht, starren in eine Zeitung, ein Buch oder ins Leere. Die Dauer dumpfer Erwartung lastet auf ihnen.
    Im Flur hört man das leise, gedämpfte Knirschen von Essenswagen; Radiomusik ist von fern aus der himmelblauen Stille des Fensters vernehmbar. Ich gähne, das Krankenhaus nimmt mich auf und verhätschelt mich wie eine alte Amme: Na, na, nicht schlimm, schon vorbei, ein Küsschen aufs Aua.
    Trotzdem starre ich auf die Tür. Nini soll kommen. Ich habe Lust, Nini zu sehen oder irgendwen, um den Kontakt zu der Welt zu behalten, die ich kenne. Hier drifte ich in ein fremdes Dasein ab, ich habe die vertrauten Bezüge und Wolken verloren, sehne mich fast nach der grauen Kälte meines Verstecks zurück. Alles ist zu hell, zu klar: Der Schatten, in den ich mich geflüchtet hatte, wird sich auflösen, man wird mich entdecken … Nein, wenn wider Erwarten eine Suchmeldung in dieses Krankenhaus gelangt wäre, hätte man es sofort überprüft, als ich noch bei der Mutter war. Außerdem bin ich Ninis Schwester, ich trage ihren Namen, einen anonymen Namen, wie alle nachfolgenden und vorhergehenden Namen im Eingangsbuch. Hier ist mein Name mein Bruch – Astragalus, hat der Doktor gesagt? Keine Anatomietafel in Reichweite … Mein Gesicht ist der Astragalus, nur ihn wird man ansehen.
    Die Oberschwester kommt herein, schiebt einen Wagen voller Verbandszeug und Plastikfläschchen mit gelbem, violettem, farblosem Inhalt vor sich her. Sie nimmt die Kurve und schiebt ihr Gefährt direkt in meine Ecke.
    »Auf welche Seite die Spritze?«, fragt sie und greift nach einer Kanüle und einem Wattebausch, den sie in Äther taucht.
    »Egal.«
    »Ziehen Sie das Hemd hoch und drehen Sie sich um.«
    Ich drehe mich um, und das am Rücken offene Hemd entblößt von selbst meinen nackten Hintern. Das »Ziehen Sie sich aus!« der letzten Jahre verlangte vollständiges Blankmachen und ging einer strengen Leibesvisitation voraus. Sogar nach mehreren Monaten Haft, in denen Strohsack und Büstenhalter wöchentlich gefilzt wurden, kontrollierten mich die Aufseherinnen bei jeder Rückkehr vom Staatsanwalt ganz genau: »Stellen Sie den Fuß auf den Hocker. Husten Sie! … Gut.« Deshalb hatte ich dem »Ziehen Sie sich aus« der Krankenschwester aus Gewohnheit bis aufs Letzte gehorcht.
    Der Knast hielt mich immer noch gefangen, ich erkannte ihn in Reflexen, Zusammenzucken, Heimtücke, Unterwerfungsgesten. Man kann nicht von einem Tag auf den anderen mehrere Jahre minutengenau geplanten Alltag und ständige Verstellung von sich abwaschen. Wenn der Körper wieder frei ist, wird dafür der Geist, bisher einzige Ausflucht, zum Sklaven dieser Mechanismen; die Demut, die man spielte, wird zu echter Schüchternheit; ich, dort die Dreistigkeit in Person, traute mich jetzt nicht mehr, selbst bei den natürlichsten Handlungen die Initiative

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